Mit Farben gewürfelt

Jugendstil

ein Jugendstilhaus mit drei Etagen und einem roten Dach

Das hochaufsteigende Zeltdach mit einem in die Gebäudeecke gerückten Quergiebel gegen Westen bestimmt die Erscheinung der Jugendstilvilla ebenso wie die verputzten Fassaden mit den gotisierenden Fenstergewänden und ihrer über die Jahrzehnte gewonnenen Patina.

Schon einige Jahre begleitete Architekt Martin Bruhin die vierköpfige Familie auf ihrer Suche nach einem passenden Umbauobjekt. Es hätte auch ein jüngeres Haus werden dürfen, doch die verträumte Villa mit ihren eleganten Räumen, erbaut 1908 im Geiste des Jugend- und Heimatstils, begeisterte unmittelbar und versprach die Wünsche und Ansprüche der Bauherrschaft zu erfüllen.

Am Fusse des Staufbergs mit seiner bekannten Kirche und auf halbem Weg zum Stadtzentrum von Lenzburg entstand die stattliche Villa wie viele Bürgerhäuser der Jahrhundertwende aus dem Wunsch nach repräsentativen Wohnräumen und einem gesünderen Leben ausserhalb der beengten Bebauungen der Dorfkerne.

Die historischen Zentren sind inzwischen über ein Geflecht von Strassen und Neubauquartieren zusammengewachsen, das grosszügige Haus wird aber bis heute von einem Garten mit altem Baumbestand und bauzeitlicher Einfriedung gefasst.

Wand weg

Das bewährte Raumprogramm der Villa konnte mit ein paar wenigen Änderungen den Bedürfnissen der Familie angepasst werden: Im oberen Geschoss entstand im Bereich des Mittelkorridors ein zusätzliches kleines Bad. Ein vorhandenes Badezimmer, vermutlich in den 1970er-Jahren aufgrund der Leitungsführung im Schlafzimmer über der Küche eingebaut, wurde in ein kleineres Nebenzimmer versetzt, wodurch das Zimmer wieder der ursprünglichen Nutzung zurückgeführt werden konnte.

Die grösste Veränderung fand im Erdgeschoss mit der Aufhebung der Wand zwischen Wohnraum und Küche statt. Die unterschiedlichen Decken- und Bodenfassungen dieser zwei Räume verschränken sich zu einer Übergangszone und sorgen dennoch dafür, dass die originalen Raumdimensionen ablesbar bleiben.

 

Eine markant ausgezeichnete doppelflüglige Glastür führt in die von der Familie vermutlich meist genutzte Raumgruppe: Küche und Esszimmer. (Leuchte: Serien Raumleuchten)

Ein kräftiges Grün und die lebendige Maserung der Seekiefer verleihen den Küchenmöbeln Präsenz. Ein neuer Ausgang führt von der Küche direkt in den Garten. (Leuchte: Vibia über Licht & Wohnen)

Der in der Masse eingefärbte Dämmputz erinnert dank kräftiger Farbe und wolkiger Oberfläche an die einst vermutlich mit Tapeten geschmückten Wände. (Leuchte: Serien Raumleuchten)

Martin Bruhin (links), Architekt FH/SIA, und Seraina Bruhin-Spiess, wissenschaftliche Illustratorin und Atmospheric-Designerin, gründeten ihr Architekturbüro in Aarau vor zehn Jahren. Zum Projektteam der Jugendstilvilla zählte zudem Projekt- und Bauleiter Walter Lutz (rechts). 

Jugendstil par exellence

Jugendstil ist dekorativ, leichtfüssig, mitunter üppig und bunt. Wand- und Brusttäfer, gestemmte Türblätter, Einbauschränke, die Holztreppe mit gedrechselten Geländerstäben und weitere im Haus verteilte bauzeitliche Fragmente ergaben ein entzifferbares Bild der einstigen Innenausstattung. Doch wie soll zeitgenössische Architektur auf diese ornamentale Raumausschmückung reagieren?

Martin Bruhin wollte auf jeden Fall nicht in die «Replika-Kiste» greifen. Dennoch knüpft sein Vorschlag gleich auf mehreren Ebenen an den Bestand an, wobei Farbe und eine dem Material eigene Ornamenthaftigkeit gleichsam den roten Faden bilden. Basierend auf umfassenden Farbuntersuchungen, erstellte Seraina Bruhin-Spiess, wissenschaftliche Illustratorin mit CAS in Atmospheric Design, ein Farbkonzept, das die Räume als monochrome Farbeinheiten versteht und so jedem Raum ein charakteristisches Innenleben verleiht.

Das Trägermaterial der Farbe, ein in der Masse gefärbter Dämmputz, verbessert gleichzeitig – analog den historischen Holztäfelungen – den Wohnkomfort. In den Nasszellen zieht sich der jeweilige Farbton zudem bei den durchgefärbten Feinsteinzeugplatten und den Einbauten aus Seekiefernholz weiter.

Passende Materialien

Vieles, was inzwischen selbstverständlich erscheint, gelang nur dank intensiver Materialrecherchen und einer hohen Kunstfertigkeit, die an die Bauzeit der Villa anknüpft und gleichzeitig die Brücke zur Gegenwart schlägt. lllusionsmalerei, wie sie stellenweise noch zu finden war, ist heute kaum mehr bezahlbar. An ihre Stelle tritt nun die kräftige Maserung der Seekiefer, die das Ornament neu interpretiert.

Die Oberflächen der farbig lasierten Küchen- und Badeinbauten wie auch der Holzständerwand im Obergeschoss werden dank der Seekiefer zu einem eigentlichen Raumschmuck. Wie Farbwürfel verbinden sich die Räume zum plastischen Baukörper, dessen einzigartiges Innenleben ganz nach Henry Baudin den Geschmack, den Charakter und das Temperament der Bewohnerschaft widerspiegeln darf.

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