Eine Stiftung rettet Riom in die Zukunft

Interview: Wakkerpreisverleihung 2018

Dank Origen ist Riom wieder ein Ort der Begegnung geworden – für Einheimische, Künstler und Kulturgäste. 

Gründer und treibende Kraft der Nova Fundaziun Origen ist der Theologe und Theaterwissenschaftler Giovanni Netzer.

Das Sommertheater in der Burg von Riom: Die Zuschauertribüne wurde 2006 eingebaut, das schwere Dach stammt aus den 1970er-Jahren.

Das ehemalige Anwesen der Familie Carisch bildet heute mit der umgebauten Scheune (das Wintertheater Clavadeira) und der neu bespielten Villa ein charaktervolles Ensemble.

Das Wintertheater Clavadeira wurde 2015 eröffnet.

Seit 1972 vergibt der Schweizer Heimatschutz den Wakkerpreis an politische Gemeinden der Schweiz, die bezüglich Ortsbild und Siedlungsentwicklung besondere Leistungen vorzeigen können. Im Kulturerbejahr 2018 geht die Auszeichnung erstmals an eine Zivilgesellschaft – die Nova Fundaziun Origen. Ein Gespräch mit dem Intendanten Origens, Giovanni Netzer.

Herr Netzer, was darf man sich unter der Nova Fundaziun Origen vorstellen und welchen Zweck verfolgt sie?
Giovanni Netzer: Die Nova Fundaziun ist eine Stiftung, die sich dem Theater widmet. Sie arbeitet spartenübergreifend, inszeniert Musiktheater, Tanztheater, Commedia, gibt Konzerte. Der inszenierte Raum ist für Origen sehr wichtig geworden. Wir bespielen kein einziges Guckkastentheater, dafür karolingische Kirchen, unterirdische Stollen, Eisenbahntunnels, Burgen, Scheunen, Reithallen – und natürlich die grosse Landschaft, die uns in Graubünden umgibt, mit ihren Jahreszeiten und Wetterlaunen. Wir lassen uns vom unglaublichen kulturellen Reichtum dieses Bergkantons inspirieren und treten den Beweis an, dass die strukturschwache alpine Brache ein Ort von Freiheit, Innovation und Kunst sein kann.

Wie würden Sie Riom jemandem beschreiben, der den Ort nicht kennt?
GN: Riom ist ein Bauerndorf mit einer Geschichte, die in die Bronzezeit zurückreicht. Die Römer haben eine Art antikes Hotel gebaut, im  Mittelalter kam eine Burg dazu, nach dem Dorfbrand von 1864 hat sich das Dorf neu erfunden und gerade Strassenzüge angelegt. Riom hat ein Dorfbild von nationaler Bedeutung, das vom grossen steten Wandel gezeichnet ist. Auch heute ist das stolze Dorf wieder an einem Wendepunkt angelangt, an dem es sich neu erfinden muss. Der Tourismus stagniert, die Landwirtschaft kann weder viele Arbeitsplätze schaffen noch Identität stiften. Kulturelle Tätigkeit kann für Riom ein neuer Motor sein.

 Was bedeutet die Auszeichnung für Origen und Riom? Oder anders gefragt: Ändert sich für Riom, für Origen und für Sie persönlich etwas durch diese Auszeichnung?
GN: Natürlich. Wir verstehen den Wakkerpeis als Ermutigung, weiterzumachen. Wir stellen diesen Sommer gleich mehrere Projekte vor, die sich mit der Zukunft des Dorfes befassen: mit Werkstätten, mit Beherbergungsbetrieben, mit der Gestaltung des öffentlichen Raums. Der Wakkerpreis ist eine grosse Chance für Riom, aber auch für viele andere Dörfer in den Alpen. Wir dürfen, wir müssen Zukunft erfinden.

 

Jeder Ort hat seine Chance – aber man sollte nicht auf den Kuss der Muse oder den Wink des Schicksals warten. 

Was sind die Gründe für diese Anerkennung? Was machen Origen und Riom anders als andere Ortschaften und Gemeinden mit denselben Herausforderungen?
GN: Im Kern geht es immer wieder darum die Stärken des sogenannten «potentialarmen Raumes» zu erkennen und mutig zu entwickeln. Was kann ein Dorf besser als die Stadt? Bedeutet Strukturschwäche möglicherweise einfach mehr Freiheit? Ist das Dorf ein guter Ort für existenzielle Fragestellungen? 

Anlässlich der Auszeichnung präsentieren Sie das Entwicklungsprojekt «Malancuneia». Mögen Sie kurz beschreiben, um was es dabei geht?
GN: Bei «Malancuneia» geht es um die Nutzung und Belebung brachliegender Häuser im Dorfzentrum. Im alten Schulhaus sind unsere textilen Werkstätten eingezogen, im Patrizierhaus am Dorfplatz ein temporäres Hotel, eine leere Scheune ist nun ein Kostümmuseum. Letztlich geht es darum, durch die Kultur neue, spannende Arbeitsplätze zu schaffen, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und der Abwanderung entgegenzuwirken. «Malancuneia» heisst Heimweh und bezeichnet die Grundbefindlichkeit der Romanen ausserhalb ihrer Heimat. Mit neuen Arbeitsplätzen kann man der «Malancuneia» entgegenwirken. 

Ist Origen ein Phänomen, bei dem der richtige Zeitpunkt, die richtigen Menschen und der richtige Ort aufeinandergetroffen sind, oder kann Origen überall «passieren»? 
GN: Nichts passiert von allein. Es braucht Visionen, aber auch die Kraft und den Willen, sie umzusetzen. Es braucht ein wenig Glück und viel Fleiss. Ohne Freunde, Helfer, Berater, Stifter, Förderer geht gar nichts. Jeder Ort hat seine Chance – aber man sollte nicht auf den Kuss der Muse oder den Wink des Schicksals warten.  

Sie haben Origen 2006 ins Leben gerufen. Was waren für Sie persönlich die Höhepunkte in den letzten 12 Jahren?
GN: Jeder Entwicklungsschritt tut gut. Wir durften eine Burg ausbauen, ein Landgut erforschen, einen hölzernen Turm auf den Julierpass stellen. Wir haben gerade einen Dorfplatz neu belebt, das alte Hotel Löwe in Mulegns zu zaghaftem neuem Leben erweckt, dürfen eine ganze Reihe grosser Künstler aus dreissig Nationen in Riom beherbergen. Origen ruht auf den Schultern vieler wunderbarer, engagierter Menschen, die das scheinbar Unmögliche realisieren – sie sind die eigentlichen Höhepunkte im Leben des Festivals.