Das Bergell war für mich immer ein besonderes Stück Heimat, da mein Nonno (ital. für Grossvater) in Castasegna aufwuchs. Auch wenn ich viel Zeit im Bergell verbracht habe, habe ich bis heute das Gefühl, dass diese Landschaft etwas Magisches birgt.
Schon als Kind beeindruckten mich die umgebauten Ställe in der Region. Sie weckten in mir eine Faszination für Architektur. Nun habe ich die Gelegenheit, mich mit Armando Ruinelli über das zu unterhalten, was ihn seit Jahrzehnten bewegt: das Bauen im Bergell.
Herausforderungen
Ruinelli und das Bergell – eine Beziehung voller Geschichte und auch Konflikten. Ein zentrales Thema unseres Gesprächs ist die Schweizer Zweitwohnungsinitiative, die Neubauten in beliebten Tourismusregionen einschränkt und vorschreibt, dass bestehende Gebäude äusserlich unverändert bleiben müssen, selbst wenn sie innen eine völlig neue Nutzung erhalten.
«Wir dürfen Ställe zu Wohnungen umbauen, solange sie von aussen wie Ställe aussehen.» Er schüttelt den Kopf. «Das ergibt doch keinen Sinn! Man lässt es aussehen, als stünde hier noch ein Stall – dabei ist das bloss eine Kulisse, fast wie in einem Museum.» Für Armando Ruinelli ist klar: Auch Dörfer mit vielen ortsprägenden Bauten müssen sich weiterentwickeln können.
Alte Strukturen, neue Ideen
Im Bergell trifft man auf zwei typische Stall-Bauweisen: den Strickbau und den Eckpfeilerbau. Der Strickbau besteht traditionell aus einem gemauerten Sockel mit Viehstall im Innern und einer aufgesetzten, robusten Kantholzkonstruktion.
Der Eckpfeilerbau hingegen ist eine massive, gemauerte Struktur mit waagerecht angeordneten Brettern, die zwischen den gemauerten Pfeilern eingefügt sind. «Mit dem Eckpfeiler und den Brettern dazwischen lässt sich gut und zeitgenössisch arbeiten,» erklärt Ruinelli. «Beim Haus RM in Soglio haben wir die waagerechten Bretter umfunktioniert und verstellbare, vertikale Lamellen daraus gemacht, die als Sonnenschutz dienen.»
Dennoch spürt Ruinelli bei vielen Projekten die engen Grenzen der Zweitwohnungsinitiative. Für ihn gibt es für die Zukunft des Bergells nur zwei Lösungsansätze: «Entweder das Gebäude wird ersetzt – schliesslich ist es kein Stall mehr.»
Oder man geht zeitgenössisch mit dem Thema um und integriert eine moderne Konstruktion in den Rohbau, quasi eine «Box» aus Glas, Holz oder Metall. «Das ist ein sehr spannender Ansatz, weil es so offensichtlich ist.» Doch da im Bergell kaum grosse Ställe existieren und so eine Box natürlich Platz braucht, wird es bei dieser Lösung oft eng.
Von Stampfbeton zu Kalk: Nachhaltigkeit und Pragmatismus
Ruinelli hat viel mit Stampfbeton gearbeitet. «Ich mag Materialien, die ehrlich sind. Die für das stehen, was sie sind», sagt er. Doch es gibt ein Problem: «Der Zement im Stampfbeton ist ein Klimakiller, da bei der Herstellung von Zement viel CO₂ freigesetzt wird.»
Also hat er zusammen mit einem Baumeister nach Alternativen gesucht und entdeckte dabei den Kalk. «Kalk ist ökologisch sinnvoller und passt zur Philosophie, die Materialien ehrlich zu nutzen.»
Biodiversität – auch im Dorfleben
Armando Ruinelli ist nicht nur Architekt, sondern auch eine Art Landschaftspfleger für die sozialen Strukturen des Bergells. Für ihn sollte ein Dorf ebenso vielfältig sein wie die Natur.
«Die Gefahr der Monokultur,wenn hier nur noch wenige, meist ältere Leute sind, ist etwas, das mir Sorgen bereitet. Wenn unterschiedliche Menschen hier leben, belebt das nicht nur das Dorf, sondern bringt auch spannendere Projekte. Und sonst wird es sehr einseitig. Darum gehen mir diese Ställe manchmal auch ein wenig auf die Nerven,» fügt er augenzwinkernd hinzu.
Abwechselnde Aufgaben – das liegt in der Natur der Sache – liegen ihm mehr, da nur so die Spannung erhalten bleibt.
Herzensangelegenheiten
Das Parkhausprojekt in Soglio, das im November startet, ist ein Projekt, das ihm aktuell grosse Freude bereitet. Die Gemeinde Soglio hatte damals verschiedene Architekten eingeladen, wobei Ruinelli Associati 2010 den Wettbewerb gewann.
Doch dann fusionierte die Gemeinde Soglio mit anderen Gemeinden im Bergell zur Gemeinde Bregaglia. «Somit ist sozusagen unsere Bauherrschaft gestorben, und das Projekt lag auf Eis.»
Die neue Gemeinde Bregaglia hat alles neu geprüft und das Projekt wieder aufgenommen, allerdings in vereinfachter Form. «Das Parkhaus ist spannend, weil der Rohbau selbst die Architektur ist – du kannst keine schönen Vorhänge aufhängen oder es möblieren. Entweder ist es gelungen oder nicht,» sagt Ruinelli begeistert.
Die Freude des Architekten
Die Zusammenarbeit mit der Bauherrschaft stellt einen wesentlichen Faktor für Ruinelli dar. «Eine gute Bauherrschaft ist von entscheidender Bedeutung und trägt massgeblich zum Projekterfolg bei. Bisher hatte ich immer grosses Glück.» Mit einem Lächeln denkt er an die Zusammenarbeit mit Bauherrschaften wie dem Fotografen Raymond Meier und der Künstlerin Miriam Cahn zurück.
Ruinelli begann seine berufliche Laufbahn mit einer Lehre als Hochbauzeichner in Zürich. «Meine Familie hat mir eine Lehrstelle in Zürich organisiert.
Es ist immer gut, für eine gewisse Zeit den Lebensmittelpunkt zu verändern und mit einem «Koffer voller Kultur» zurückzukehren. Diese Empfehlung gebe ich bis heute an alle Bergeller:innen weiter, die sich bei uns um eine Lehrstelle bewerben.»
Nach Abschluss seiner Lehre kehrte er schliesslich nach Soglio zurück. Ursprünglich war nur ein Zwischenstopp geplant, doch aufgrund immer grösser werdenden Projekte blieb er und machte sich 1982 mit dem eigenen Büro (heute Ruinelli Associati) selbstständig.
Von Japan nach Soglio – die internationale Perspektive
Ein Erlebnis, das Ruinelli besonders schätzt, ist die Zeit mit seinen Mitarbeiter:innen und Praktikant:innen. «Von Kalabrien bis Norddeutschland war schon alles dabei – sogar ein Student aus Japan. Und es hat sich gelohnt, denn dann durfte ich zweimal für Vorträge nach Japan reisen», erzählt Ruinelli. «Die Erfahrung mit Praktikant:innen ist immer spannend. Man bleibt flexibel und lernt, zuzuhören.»
Ruinelli hat auch schon an der Fachhochschule Biberach an der Riss und Kaiserslautern in Deutschland unterrichtet. Bis vor Kurzem war er Dozent an der FHGR in Chur. «Das war eine gute Abwechslung zum Büroalltag. Aber jetzt ist es auch gut, wenn Jüngere nachziehen.», sagt er grinsend.
Armando Ruinelli ist mehr als nur Architekt; er ist ein leidenschaftlicher Vertreter seines Tals, der das Alte bewahren und doch Raum für Neues schaffen möchte. In seiner Arbeit und seiner Haltung zeigt sich ein tiefer Respekt für die Geschichte des Bergells – und ein klarer Blick auf die Zukunft.