Jeder Balken in diesem Engadiner Bauernhaus in einem malerischen Dorf erzählt eine Geschichte. Die Ursprünge des Hofs, mit dem die Familie tief verwurzelt ist, reichen bis ins 14. Jahrhundert zurück. Es ist ein wunderbares Beispiel, wie ein identitätsstiftendes Haus über Generationen weitergereicht und trotzdem den heutigen Ansprüchen an Komfort und Funktionalität gerecht wird. Gian Casty, einer der bedeutendsten Glasmaler des 20. Jahrhunderts in der Schweiz, ist in diesem typischen Engadiner Berghaus in den 1920er- und 1930er-Jahren in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Später erbte der Maler, der lange Zeit in Basel lebte, das Anwesen. Von seinen Paris-Reisen inspiriert, baute der Graubündner in den 1970er-Jahren den ehemaligen Stall zu einem über sechs Meter hohen Atelier mit Empore für den Schlafbereich um. In diesem Raum entstanden viele Skizzen und Vorentwürfe zu Castys Kirchenfenstern, Stillleben in Öl und Radierungen. Ein ständiger Gast war Gian Pedretti, ebenfalls ein renommierter Künstler aus der Gegend, der in Samedan aufwuchs. Beide verband eine lange und intensive Freundschaft, die sich nicht nur in vielen Kunstwerken, sondern auch in den Details des charakteristischen Hauses in der Oberengadiner Bergwelt niederschlägt.
Seit 1978 bewohnt Castys Tochter Mierta mit ihrem Mann, einem Arzt, das Gebäude. Regelmässig pendelt die Familie zwischen Baden im Kanton Aargau und dem Oberengadin. Weil es zunehmend zum lieb gewonnenen Treffpunkt der Familie wurde, entschloss sich das Paar 2016, das Haus umfangreich zu renovieren. Sie beauftragten das Architekturbüro Christian Klainguti und Gian-Reto Rainalter SA aus Zuoz. Beide haben schon viele Kleinode in der Gegend saniert. Die Devise der Eigentümer lautete: So viel wie möglich erhalten und wo machbar, natürliche Materialien aus der Gegend verwenden. «Es sollte erdig und ursprünglich bleiben», fasst der Architekt die Wünsche zusammen.
Im Gegensatz zu vielen anderen Modernisierungen, die einen weissen Putz erhielten, beliessen die Bauherren aussen den schlammfarbigen Ton und besserten ihn nur an einigen Stellen aus. Ein erfahrener Restaurator mischte den Mörtel dafür mit Sand aus dem nahe gelegen Inn. In der Schlichtheit liegt die Schönheit dieser Fassade. Ein an der Traufe montierter Hirsch fungiert als Wächter und Beschützer. Gian Pedretti hat ihn entworfen. Die reliefartigen Sgraffito-Ornamente, die so typisch für die Region sind, fertigte Gian Casty fast alle selbst. Das grosse Scheunentor gibt den Blick frei in den Sulèr, den ehemaligen Flur, in dem der Essbereich liegt. Schon hier offenbart sich, dass sich die Bauherren auf wenige Baumaterialien beschränkten: schwarzes Metall und Holz. Die massiven Lärchendielen sind dort noch im Originalzustand. «Vor etwa 200 Jahren wurden sie aus Spargründen umgedreht», erzählt der Architekt Gian-Reto Rainalter lächelnd. Der schwarze Esstisch aus Eisen war Mierta Castys Idee. Hier sitzt die Familie gerne mit Freunden zum Abendessen. Er hat symbolischen Charakter: Unter der Glasplatte gibt es eine Heueinlage, die einen Bezug zur ursprünglichen Nutzung des Raums herstellt – hier fuhr früher der Heuwagen rein. Die wärmenden Schaffelle für die Metallstühle schenkt ihr ein Cousin, der eine Zucht mit über 600 Tieren hat. Das Cheminée mit Grillfläche war ein Herzenswunsch des Hausherrn. «Er bietet ein prächtiges Flammenspiel. Er sollte auf Augenhöhe eingebaut werden, damit wir im Sitzen ins Feuer schauen können», erzählt der Eigentümer.