Es war schon spät, als ich diese Woche nach Hause kam und mich für den Mitternachts-Snack entschied. Ich war direkt von der Redaktion auf eine Veranstaltung gehetzt, musste zeitbedingt das Abendessen auslassen und hatte noch Reste meiner absoluten Pesto-Entdeckung des Jahres (Artischocke mit einer prägnanten Zitronennote) übrig. Alle Vorzeichen standen günstig, doch dann passierte das Unglück.
Ich öffnete den Küchenschrank und der kleine wacklige Berg verschieden grosser Porzellan-Schalen geriet ins Wanken; ich war nicht mehr schnell genug (Mitternacht!), um rettend einzuschreiten. Ausgerechnet meine Lieblingsschale fiel heraus und zersprang vor meinen Augen in grosse Scherben. Man weiss ja von der Vergänglichkeit von Porzellan – es macht seinen zarten Reiz aus – aber wenn es dann doch geschieht, zerbricht viel mehr als nur ein Geschirr-Liebling. Es zerbricht ein Teil in einem selbst.
Am nächsten Morgen musste ich wehmütig lächeln, als mir die Ironie des Zufalls bewusst wurde, denn ich hatte am Nachmittag ein Gespräch mit Sandra Haischberger geplant. Sie ist die Gründerin des österreichischen Labels feinedinge*, das sich dem Material Porzellan verschrieben hat und in Wien ein wunderschönes Studio betreibt, das Manufaktur und Verkaufsraum in einem ist. War es nicht noch zu früh nach diesem schmerzlichen Verlust, um sich mit einer Meisterin ihres Fachs über ihre Passion auszutauschen?
Sandra betreibt feinedinge* seit 2005, seit gut vier Jahren findet man sie und ihr siebenköpfiges Team in einem grossen, hellen Laden, der einen Steinwurf vom Naschmarkt entfernt liegt. Die Keramikspezialisten kreieren dort reduzierte Designstücke, die schlichte Neuinterpretationen von Klassikern sind – zeitgenössisch und klassisch in einem. Manche Objekte des Sortiments gibt es schon seit Jahren, doch immer wieder erweitern Neuentwicklungen oder farbliche Updates das Angebot. Die Alice-Kollektion beispielsweise ist inzwischen bereits 10 Jahre alt, wird aber gerade neu in einem Gelbton aufgelegt.
Es hatte etwas Tröstliches, Sandra über die Arbeit mit dem Material reden zu hören – ich sah die glatt-kühle, graue Masse quasi vor mir, aus der meine Schale einst hervorging. Ich horchte auf, als sie Raw erwähnte, eine Linie, mit der sie Keramiken ein zweites Leben verleiht, indem sie die Porzellanabschnitte verwertet, die bei der Fertigung von Alice abfallen.
«Bei der Produktion kann es passieren, dass beim Giessen Abschnitte entstehen oder beim Retuschieren die Objekte zerbrechen. Solange das Porzellan noch nicht gebrannt ist, kann man es wiederaufbereiten, indem man Wasser dazugibt und mit Elektrolyten verflüssigt. Das nennt sich Einsumpfen.» Lange Jahre dachte sich Sandra, dass die verschiedenen Farben der Rohmasse dann sortiert werden müssten und roh kaum zu unterscheiden waren – fast unmöglich da eine Farbe beizubehalten. «Da hatte ich quasi einen Knoten im Kopf», sagt sie nun und lacht über sich selbst.
Denn das Spiel mit den verschiedenen Tönen ist inzwischen ein Merkmal, das Raw so besonders macht. «Man weiss am Ende nie, welche Farbe herauskommt. Die Palette bewegt sich zwischen grau, rosa und grün und ist wirklich schön.» Die Rührmaschine, in denen die Reste für die Raw-Linie aufarbeitet werden, fasst genau vier Eimer. Alle Objekte, die daraus gefertigt werden, verfügen über die gleiche Farbe, beim nächsten Schwung sieht es schon wieder ganz anders aus. Um die Einzigartigkeit zu unterstreichen, werden die Teile mit dem Monat und der Jahreszahl, in der sie fabriziert wurden, gestempelt. Mein Herz machte einen Sprung – war ich etwa schon bereit für eine neuen Liebling im Geschirrschrank?
Die Basics von Raw gibt es bereits seit 2014, nun wird das Sortiment um weitere Teile wie eine Zucker- und eine Butterdose erweitert. Irgendwann wird man ein vollständiges Service zusammenstellen können – etwas, das Sandra nicht erwartet hatte, als sie vor 15 Jahren mit feinedinge* begann. An der Universität für Angewandte Kunst in Wien hatte man ihnen vermittelt, dass das Konzept eines kompletten Geschirr-Service ein für alle Mal passé wäre. Ein Irrtum, wie die Betreiber*innen der Manufaktur immer wieder feststellen. Flexibler sei man geworden, das schon. Statt eines Rundum-Komplettpakets, in dem vom Speiseteller bis zum Dessertschälchen alles aus einer Linie stammt, suchen sich Kunden ein Service für einen Teilbereich, wie das Frühstücksgeschirr oder das Kaffee-Set, und kombinieren dieses mit anderen Stilen.
Im Designprozess ist der Austausch mit ihren Kunden extrem wichtig und als kleine Werkstatt hat feinedinge* den Luxus, schnell und flexibel auf Input reagieren zu können. «Ich liebe Produkte, die eine Funktion haben und da finde ich es besonders spannend, zu hören, was den Leuten im Haushalt noch fehlt.», sagt Sandra. So entstand beispielsweise das kleine Tee-Stövchen, das von verschiedenen Seiten gewünscht wurde. Sandra ist kein grosser Fan von Stövchen und war lange skeptisch eines zu entwickeln, hat sich aber zähneknirschend dem Zeitgeist unterworfen. Ein Glück für die Kunden, es wird ungebrochen häufig verlangt.
«Es ist schön Leute im Laden zu haben. Wir hören immer wieder, wie sie sich über den erdigen Geruch aus der Werkstatt freuen.» Dass das Interesse in der Gesellschaft an Handwerksberufen immer stärker zu werden scheint, begrüsst Sandra sehr. Für sie ist es ein Zeichen der Sehnsucht in digitalen bestimmten Zeiten als Gegenpol Dinge wieder selbst zu machen und dabei das erdende Erlebnis schätzen zu lernen. Für die Keramikbranche wäre es ein Segen, denn in Österreich gibt es kaum mehr eine Ausbildung für den Bereich, was inzwischen zu Nachwuchsproblemen führt.
Was für ein Elend es wäre, wenn es kleine Porzellanmanufakturen wie feinedinge* irgendwann nicht mehr gäbe. Der Verlust meiner zerbrochenen Schale war schon hart genug, als sie zwar etwas Besonderes, aber immerhin keine vom Aussterben bedrohte Rarität war. Handgefertigte, schöne Designstücke sind und bleiben Leidenschaftsobjekte, die es zu erhalten gilt. Für Sandra war das nie eine Frage. «Ich bin in einem Haushalt gross geworden, in dem Handwerk fast schon eine Selbstverständlichkeit hatte, da meine Eltern irrsinnig viel selbst gefertigt haben. Ich habe das als Kind nie hinterfragt», sagt sie, «und fasziniert mich noch immer, dass man aus eigener Kraft etwas schaffen kann, das einem das Leben erleichtert und das man wirklich brauchen kann.»
Und es mag die Trauer sein, die noch aus mir spricht, aber ich meine diese Kraft in den Keramiken von Sandra und ihrem Team spüren zu können. Noch liegen die Scherben anklagend in meiner Küche, doch bald ist es Zeit, den nächsten Schritt zu gehen und Abschied zu nehmen. Die Vergänglichkeit von Porzellan ist schmerzhaft, doch feinedinge* gab mir Hoffnung, irgendwann wieder lieben zu können.