In Bümpliz Bethlehem entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts visionärer Wohnungsbau im Grossformat. Als Reaktion auf den extremen Wohnungsmangel nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auf den ehemaligen Landgütern in der einstigen Bauerngemeinde Bümpliz innert weniger Jahrzehnte Tausende von Wohnungen, hauptsächlich für einkommensschwache Familien, gebaut. Heute lesen sich die faszinierenden Siedlungen wie ein sozial- und architekturgeschichtlicher Rundgang durch die Geschichte des Wohnungsbaus im 20. Jahrhundert. Highlights wie die Siedlung Meienegg, der Prototyp der Mehrfamilienhaussiedlung schlechthin, oder das Tscharnergut, eine der grössten und bedeutendsten Nachkriegsüberbauungen, sind hier zu finden.
Der insgesamt erstaunlich gute Zustand der extrem effizient und kostengünstig erstellten Grosssiedlungen ist unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass hier, anders als zum Beispiel in Ostberlin, für die vorgefertigten Betonelemente hochwertige Edelstahl-Armierungen verwendet wurden. Diese weisen bis heute, gut 60 Jahre nach Erbauung, kaum Korrosionsschäden auf.
Umwerten
Vor gut einem Jahr erwarb Florian Dombois eine Wohnung in luftiger Höhe im Fellergut in Bern Bümpliz. Im Interview erläutert der international tätige Künstler das faszinierende Wohngefühl in der Grossüberbauung aus den 1970er-Jahren.
Wie kam es zum Kauf Ihrer Wohnung?
Florian Dombois: Ich habe lange nebenan an der Hochschule der Künste Bern gearbeitet und dabei einiges von der Gegend mitbekommen. Eigentlich ist Bümpliz ein architektonisches Durcheinander mit Siedlungen aus allen Jahrzehnten, aber jede versucht auf ihre Art, einem Lebensideal Form zu geben. So kann man auch das Fellergut aus den 1970er-Jahren lesen. Die Grosssiedlung faszinierte mich gerade auch, weil sie einen ambivalenten Ruf hat. Meine Wohnung war erstaunlicherweise die erste und einzige, die ich angeschaut habe. Es fühlte sich an, als hätte sie mich ausgesucht und nicht ich sie. Ich hatte tatsächlich nicht mit einem so guten Wohngefühl gerechnet.
Was fasziniert Sie an der Grosssiedlung?
FD: Ich besitze hier dieses Ufo im 14. und 15. Stockwerk, und trotzdem gehört mir kein Quadratmeter Land, denn das Hochhaus steht im Baurecht. Das Land bleibt in der Hand des Kollektivs und geht nicht an das Individuum über. Mich beschäftigt die Frage, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen. Ich freute mich deshalb sehr, als die Stiftung Ferien im Baudenkmal die Wohnung in ihr Programm aufnahm, weil ich glaube, es gibt hier etwas umzuwerten.
«Ich besitze hier dieses Ufo im 14. und 15. Stockwerk, und trotzdem gehört mir kein Quadratmeter Land.»
Wie funktioniert die 1970er-Jahre-Architektur heute?
FD: Ich erlebe das Wohnen hier als positiv und persönlich, es ist eine Art vertikale Dorfgemeinschaft. Die Grosszügigkeit der Verkehrsflächen ist auffallend. Die Räume sind zwar niedrig, fühlen sich aber nicht beengend an. Es gibt Lobby-ähnliche Vorräume, die Wohnungen sind über breite «rues intérieures» mit Aufenthaltsqualität erschlossen. Hinzu kommen Begegnungszonen wie die Dachterrasse oder die Waschküche, die Anlass geben, sich im Alltag zu begegnen und auszutauschen. Die Bewohnenden haben das Haus bewundernswert gut gepflegt, man müsste ihnen einen Orden verleihen. Ich habe noch nie in einem Hochhaus gewohnt. Ich empfinde trotz der Höhe ein Geborgenheitsgefühl, vermutlich weil man die Wohnung in der oberen Etage betritt und dann in das Wohngeschoss hinuntergeht. Dieses Runterkommen und dann Entkoppeltsein von der Aussentür gibt mir ein Gefühl von Erdung.
Wie haben Sie sich den Räumen Ihrer Wohnung angenähert?
FD: Zwei Dinge haben sich ergeben: Zunächst der Bodenbelag, mit dem die Vorbesitzer den originalen Nadelfilz ersetzt hatten und der nicht nach meinem Geschmack ist. Ich bin ein bisschen stolz darauf, ihn nicht rausgerissen zu haben, denn ich hätte aus rein ästhetischen Gründen extra Müll produziert. Wir müssen uns wirklich fragen, was mit unserer Ästhetik los ist, wenn wir funktionierende Dinge wegwerfen. Wie können wir einen Umgang damit finden und sie ein Stück weit umarmen? Als Künstler weiss ich: Manche Probleme muss man übersteigern, um sie zu lösen. Am Teppich, der für mich typisch ist für die 70er-Jahre, finde ich interessant, dass man aus dem Stehen ins Sitzen auf dem Boden geführt wird, dieses Runterkommen und Verlieren der militärischen Haltung gewissermassen. Diese Idee wollte ich mit den grünen Teppichen aufnehmen und einzelne Zonen auszeichnen.
Welches war der zweite Punkt?
FD: Die andere Entdeckung ist das Licht. Die Ost-West-Orientierung und die Höhe geben ein unglaubliches Licht. Eigentlich braucht man hier oben keine Vorhänge, aber ich kann damit dieses Licht feiern und verstärken. Die Vorhänge schaffen eine Lichtmischung, die morgens den Raum in Blau, dann in Orangerot tauchen. Die aufgehende Sonne schickt die Strahlen direkt durch die Kreislöcher, als würde man die Lampen anschalten. Abends dann das umgekehrte Lichtspektakel – ich finde das wirklich aufregend.
Wie haben Sie die Ausstattung Ihrer Wohnung zusammengestellt?
FD: Ursprünglich wollte ich nur ein bisschen zeittypisch einrichten. Aber dann konnte ich nicht anders und habe doch als Künstler gearbeitet. Es entstand über die Gebrauchsgegenstände und die Möblierung, aber auch über die Bücher und die aufgehängte Kunst eine Vielzahl von Bezügen. Zum Beispiel die Permutation, also die Frage des Standards versus individuelle Ausgestaltung spiegelt sich sowohl in der Ausstattung wie in der Grosssiedlung mit ihrer Elementbauweise. Es geht mir darum, Ideen aus den 1970er-Jahren zu befragen, die vielleicht heute noch Relevanz haben.
Sehen Sie die Wohnung auch als Kunstinstallation?
FD: Ja, das ist gut gesagt, aber die künstlerische Arbeit soll nicht im Vordergrund stehen. Aus Künstlerperspektive ist eine Wohnung ein aufregendes Format, weil alles zum Anfassen und Benutzen einlädt und auch etwas kaputtgehen kann. Dieses Risiko finde ich gut; die Dinge haben ihre Zeit. Zudem hat man mehr Zeit als in einem Museum und dadurch wird eine andere Begegnung möglich. Die Geschichte mit dem Licht zum Beispiel könnte ich in einer Ausstellung nicht erzählen. Die Wohnung ist keine frontale Begegnung, sondern eher ein Nebeneinander, bei dem man Dinge entdecken kann. Es ist kein Wohnen im Kunstwerk. Ich hoffe, die Leute haben Spass an den Assoziationen, die sich ergeben. Man disponiert sich hier dafür, wie man die Siedlung betritt. Das Draussen findet drinnen eine Entsprechung und umgekehrt. Wenn wir uns darauf einlassen, ermöglichen wir uns ein anderes Lesen und ein Umwerten der Siedlung. Ich arbeite und denke gerne mit und in Objekten. Die Wohnung ist für mich auch eine idealistische Sache. Die kommenden Jahrzehnte verlangen solche Wohnformen. Ich glaube erstens an die Kunst und zweitens ans Zusammenleben.
Stiftung Ferien im Baudenkmal im Fellergut
Wer das einmalige Hochhaus-Wohngefühl der 1970er-Jahre einmal selbst erleben möchte, kann dies im Hochhaus H10 in der Überbauung Fellergut, die von den Architekten Hans und Gret Reinhard sowie Hans Fischli und Fredi Eichholzer geplant und von 1971-1977 erbaut wurde. Die Stiftung Ferien im Baudenkmal vermietet hier im 14. und 15. Stockwerk die Wohnung des Künstlers Florian Dombois. Das H10 kann durchaus als 20-stöckiges Designobjekt bezeichnet werden: Materialisierung und Farbigkeit, selbst die Wandgestaltungen und mobilen Objekte wie die Möblierung der Lifthallen bis hin zu Waschmaschinen in den gemeinsamen Waschküchen sind aus der Bauzeit erhalten. Die Duplexgrundrisse mit innen liegendem Längs-Erschliessungsgang nach dem Vorbild von Le Corbusiers «Unités d’habitation», die Weitsicht von der gemeinsamen Dachterrasse und die herausragende Anbindung an den öffentlichen Verkehr tragen zur Alltagsqualität bei. Aktueller denn je ist zudem die unschlagbare Effizienz der Bauweise, des Materialeinsatzes und des Landverbrauchs, die dazu beitragen dürfte, dass diese Wohnform auch ausserhalb von Fachkreisen in Zukunft wieder zunehmend geschätzt wird.
Mit der Stiftung Ferien im Baudenkmal kann man das Wohnen im Fellergut erleben: www.ferienimbaudenkmal.ch