Die aktuelle Corona-Krise lässt viele vor Angst und Unsicherheit lähmen oder gar erstarren. In mir hingegen hat sie eine riesige Quelle der Inspiration geöffnet. Eine Krise, die ich mir niemals hätte vorstellen können, die die ganze Welt für einen Moment zum Stillstand zwingt, hat für mich alle universellen Gesetze über den Haufen geworfen. Auf einmal scheint mir nichts mehr unmöglich und sie lässt mich von einer perfekten Welt träumen, die ich für lange Zeit für unmöglich gehalten habe. Eine Welt für die Gemeinschaft und nicht für das Individuum.
In einer perfekten Welt wären all unsere Häuser in sanften Farben gestrichen, in Zartrosa, in Lavendel, in Butterblumengelb oder Mint. In einer perfekten Welt würden Personen nicht in Einfamilienhäusern oder anonymen Wohnblöcken wohnen, sondern in einem Wohnkomplex, der Treffpunkte und ein kreatives Leben miteinander schafft. In einer perfekten Welt würden wir morgens als erstes das Meer sehen und mit einem Kaffee in der Hand den Kopf in die laue Sommerbrise strecken. Und in einer perfekten Welt würde der spanische Architekt Ricardo Bofill unsere Städte gestalten. Überraschend, bunt, romantisch und erfrischend unkonventionell.
La Muralla Roja, ein Wohnkomplex aus den 1970er-Jahren an der Costa Blanca, ist genau das: Ein Versuch, die Welt bunter und fröhlicher zu gestalten. Eine surreale Vorstellung, wie wir Menschen miteinander leben, statt nebeneinander, ein Plädoyer für das Kollektiv und nicht das Individuum. Aktuell wirkt das Gebäude wie eine surreale Skizze einer Welt, die wir nie erleben werden. Undefinierte Strukturen und wechselnde Grundrisse lassen das Wohnhaus wie ein Labyrinth erscheinen. Die Treppen folgen keinem System, einige Stufen führen gar ins Leere und lassen das Gefühl eines unberechenbaren Parcours aufkommen. Aber genau das war es, was Bofill wollte: Gegenwärtige Wohnstrukturen aufbrechen und einen Ort schaffen für das gemeinschaftliche Erkunden von neuen Wegen, Räumen und Möglichkeiten.
«Wir wollten den corbusianischen Block aufbrechen und mit unseren Projekten eine neue Art von Stadt entwickeln. Unsere Bauten sollten dem konventionellen Strassenbild den Rücken zukehren. Im Inneren wollten wir die Bewohner zu einem neuen Miteinander animieren, soziale Experimente provozieren, die Kleinfamilie überwinden. Wir waren jung, wir waren Utopisten», sagte der Spanier vor einigen Jahren in einem Interview. Heute mit der Corona-Krise zeichnet der Wohnkomplex ein Sehnsuchtsbild, das aktueller nicht sein könnte. Doch La Muralla Roja entstand nicht aus einer Krise heraus, sondern aus den Köpfen von ein paar Kreativen. Bofill bekam den Auftrag, verschiedene kleinere Wohnanlagen auf einem Felsabschnitt zu planen. Ein Wohnkomplex mit 50 Wohnungen mit Flächen zwischen 60 und 120 Quadratmetern. Er sträubte sich gegen die gegenwärtigen schlichten Bauformen und arbeitete gerne mit Apartment-Clustern, die sich aus verschiedenen Modulen zusammenfügten. Aber leider war La Muralla Roja nie als Kommune gedacht, sondern als Residenz für Normalbürger und Touristen – weshalb eine Gemeinschaft, wie es sich der Architekt für die Bewohner vorstellte, auch dank architektonischer Hilfestellung nie funktionierte. Viel mehr aber ist es ein Abbild einer utopischen Träumerei, einer schönen Vorstellung, wie unsere Gesellschaft funktionieren könnte – in einer Welt, in der die Begriffe «Corona-Virus» oder «Covid-19» nie in unseren Wortschatz gefunden hätten.
La Muralla Roja steht heute wie ein Kunstwerk auf dem Felsabschnitt nahe der Ortschaft Calpe. Einige der Wohnungen werden bewohnt, andere an Touristen vermietet. Ein Stück Utopie zum Schnäppchenpreis von 70 Euro die Nacht. Und die romantische Schwärmerei gibt es kostenlos dazu. Hier will man ohne Grund die Treppen emporsteigen, den verwinkelten Gängen folgen und schauen, was hinter den Mauern verborgen liegt. Ganz oben befindet sich ein Pool – von hier sieht man nur eines, die unendliche Weite des Himmels. Und die lässt die einstige Vision Bofills erahnen, dass mithilfe neuer Bauformen auch eine neue, bessere Welt möglich wäre.