Der französische Designer Mathieu Lehanneur (*1974) lässt sich in keine Schublade stecken. Sein Ansatz ist radikal multidisziplinär und seine Arbeit reicht von Objekten zu Architektur, von Kunstwerken hin zu Alltagsprodukten. Sein neuester Wurf: die olympische Fackel und der Feuerkessel für die Olympischen Spiele 2024 in Paris.
Wir haben mit dem von der Messe Maison & Objet jüngst zum Designer des Jahres 2024 gekürten Franzosen über seine Arbeit, seine aktuellen Projekte und die Zukunft gesprochen.
Mathieu, du hast so ziemlich alles entworfen, von Autos, Möbeln und Smartphones bis hin zu Rauminstallationen und jüngst die Fackel und den Feuerkessel für die Olympischen Spiele 2024 in Paris...
Ich bin davon überzeugt, dass die Aufgabe eines Designers nicht darin besteht, eine perfekte Form zu entwerfen, sondern ein Objekt, das eine Funktion erfüllt oder gar ein Problem löst. Mir wird immer wieder bewusst, wie stark der Einfluss von Design auf das Leben ist und wie sehr Design unser Leben verändern kann. Etwa wenn der Direktor eines Krankenhauses mich bittet, an einem Projekt für eine Palliativstation zu arbeiten, wenn ein Pfarrer mich bittet, den Altarraum einer romanischen Kirche neu zu gestalten, oder wenn ich mit der Harvard University zusammenarbeite, um einen Luftreiniger zu entwickeln, der Pflanzen zur Reinigung unserer Innenräume nutzt.
Ich vertrete die Ansicht, dass Design konventionelle Grenzen überschreiten sollte, und dass Innovationen eine tiefere Verbindung zwischen den Menschen und ihrer Umgebung schaffen müssen, um nicht nur Komfort, sondern eine profunde und harmonische Lebensweise zu fördern. In dieser schnelllebigen Zeit ist es wichtig, uns wieder mit unseren Urinstinkten zu verbinden und die Tatsache anzuerkennen, dass wir fühlen, atmen und existieren können...
Vor kurzem wurdest du auf der internationalen Messe Maison & Objet zum «Designer des Jahres 2024» gekürt. Zu diesem Anlass hast du im Januar 2024 «Outonomy» präsentiert. Die monochrome Rauminstallation soll ein Ort sein, an dem jeder von uns unsere Art zu leben und mit unserer Umwelt zu interagieren überdenken kann. Wie sieht die Zukunft des Wohnens in deinen Augen aus?
Es wäre vermessen zu glauben, dass wir für die Zukunft entwerfen, da wir nicht wissen, was das Morgen bringen wird. Ich versuche vielmehr, Lösungen für unsere aktuellen Bedürfnisse zu schaffen und zu entwickeln. Die Designer der Zukunft werden sinnvolle Gegenstände und Geräte für die Gegenwart entwerfen!
Mit dem Projekt «Outonomy» wollte ich eine Alternative zur gegenwärtigen Sichtweise des Menschen als Herrscher über die Natur schaffen. «Outonomy» soll dazu anregen, sich einen innovativen Lebensraum und einen neuen Lebensstil vorzustellen, der auf einem fruchtbaren Zusammenspiel zwischen dem Menschen und seiner Umwelt beruht.
Weit davon entfernt, nostalgisch oder rückwärtsgewandt zu sein versucht «Outonomy» eine Antwort auf die Frage zu geben: Was brauche ich wirklich? Ohne eine totale Selbstversorgung anzustreben, impliziert der Wunsch nach Unabhängigkeit, dass wir uns zunächst über die Säulen unserer Grundbedürfnisse Gedanken machen müssen: meine Nahrung, meine Energie, meine Aktivitäten, meine Sicherheit und meinen Komfort. «Outonomy» ist also inspiriert vom Überlebensgedanken, der gegenwärtig auf der ganzen Welt in zahlreichen Formen auftaucht. Dabei geht es nicht darum, den Weg des Bunkers einzuschlagen oder über die Apokalypse nachzudenken, sondern vielmehr darum, das Leben zu hinterfragen, das wir führen wollen.
In dieser schnelllebigen Zeit ist es wichtig, uns wieder mit unseren Urinstinkten zu verbinden und die Tatsache anzuerkennen, dass wir fühlen, atmen und existieren können...
Für die Olympischen Spiele 2024 in Paris hast du zwei der ikonischsten Objekte entworfen: die Fackel und den Feuerkessel. Was war deine Idee hinter dem Entwurf und welche Elemente des Gastgeberlandes Frankreich wolltest du damit aufgreifen?
Das Design und die Konzeption der Fackel beruhen auf drei Hauptpfeilern: Gleichheit, Wasser und Frieden. Sie sind Teil der Werte, aber auch Elemente des Kontextes.
Die Gleichheit, die sowohl in der absoluten Parität zwischen Männern und Frauen als auch in der Gleichwertigkeit der Olympischen und Paralympischen Spiele zum Ausdruck kommt, wird durch die perfekte Symmetrie der Fackel zum Ausdruck gebracht. Neben den historischen Bauwerken und Monumenten steht Paris für die Lebenskunst am Wasser. Die Seine ist das Bindeglied und das pulsierende Herz der Stadt; sie wird auch als Schauplatz der Eröffnungsfeier dienen. Die Fackel lässt sich von ihr inspirieren, indem sie mit den Wellen und Reflexionen im polierten Metall spielt. Schliesslich wird die Idee des Friedens durch ein Design vermittelt, das vollständig auf Kurven und kontinuierlichen Linien basiert.
Kannst du mir ein bisschen über den Prozess erzählen? Wie viel gestalterische Freiheit hattest du?
Ursprünglich gab es keine Vorgaben; wir mussten lediglich einige technische Einschränkungen einhalten, was uns die Freiheit gab, neue Ideen und Konzepte zu entwickeln, die perfekt mit den Werten von Paris 2024 übereinstimmen.
Die olympische Fackel ist ein Objekt von grosser technischer Komplexität, das auf potenziell extreme klimatische Bedingungen reagieren muss. Deshalb haben wir jedes Designdetail optimiert und dabei immer das Mantra im Auge behalten: Das Feuer darf und wird nicht erlöschen!
Welche Rolle spielen Innovation und Tradition für dich?
Ich bin begeistert von potenziellen neuen Technologien, aber in meiner Arbeit stelle ich keine Hierarchie zwischen verschiedenen Methoden auf. Ich schätze sie für das, was sie sind, in der Zeit in der sie geschaffen oder erfunden wurden. Vom Feuerstein bis zum Computer, von der Höhle bis zum Raumschiff... Sie sind oder waren ideal in dem Kontext oder der Epoche, in der sie entstanden sind. Ich finde es viel spannender, alte Methoden und modernste Technologien in ein und demselben Projekt zu vereinen. Auf diese Weise lässt sich auch die gesamte Geschichte der Menschheit in einem Werk integrieren.
Es wäre vermessen zu glauben, dass wir für die Zukunft entwerfen, da wir nicht wissen, was das Morgen bringen wird.
Nach der Eröffnung deiner «Factory» am Rande von Paris überquerst du nun den Atlantik und eröffnest im Frühjahr 2024 dein neues Pied-à Terre in New York. Was darf man erwarten?
Ich würde sagen, dass ich jetzt eine aufregende neue Reise antrete. Im Jahr 2023 eröffneten wir die "Factory" im Herzen eines jahrhundertealten Industriegebäudes am Rande von Paris. Hier konzipieren, entwickeln und verkaufen wir seither unsere Kreationen. Dieser neue Standort stellt einen wichtigen neuen Meilenstein in der Expansion der Marke dar, die wir 2018 gegründet haben. Im Laufe der Jahre hat sich unser Betrieb schrittweise vom traditionellen Designstudio-Modell entfernt, und die «Factory» verkörpert diesen Paradigmenwechsel. Die Idee ist, unsere Praxis als unabhängige Marke zu etablieren und alles selbst zu entwickeln und zu produzieren.
In diesem Frühjahr werden wir auch unser neues Pied-à Terre in New York einweihen. In diesem exklusiven und dauerhaften Raum in einem der schönsten Wolkenkratzer der Stadt werden wir unsere neuesten Kreationen ausstellen.
Klingt sehr spannend. Was ist ein noch nicht erfülltes Traumprojekt?
Ich würde gerne eine Schule gestalten – vom Klassenzimmer bis zum Bleistift! Es wäre eine wunderbare Herausforderung, eine Umgebung zu schaffen, die das Lernen, die Kreativität und das Wachstum fördert.