
El Nido de Quetzalcóatl, ein schlangenförmiges Gebäude im Parque Quetzalcóatl in Mexiko-Stadt, enthält zehn Privatwohnungen.
Fenster als Augen, Wände, die sich wie Gliedmassen wölben, und Wege, die sich durch modellierte Landschaften schlängeln: Kaum ein anderer Architekt denkt Raum so körperlich wie Javier Senosiain. Seine Bauten erinnern an Tiere, Pflanzen oder geologische Formationen – voller Rundungen, Bewegung und Symbolkraft. Dabei dient die Natur nicht als blosses Vorbild, sondern wird zur strukturellen wie symbolischen Grundlage seiner Architektur.
Senosiain, 1948 in Mexiko-Stadt geboren, zählt zu den wichtigsten Vertretern der sogenannten Bioarchitektur. Seine Entwürfe folgen keinem rechten Winkel, sondern einem Denken in Kurven, Volumen und Übergängen. Inspiriert von organischen Formen, prähispanischen Mythen und dem mexikanischen Kunsthandwerk entwickelte er eine unverkennbare Architektursprache – irgendwo zwischen Skulptur, Wohnraum und Landschaftsinszenierung.
Ich konnte ein paar seiner Gebäude bei meiner letzten Reise nach Mexiko City besuchen und selbst in die fantasiereiche Welt von Sanosiain eintauchen.
Architektur neu gedacht
Ein prägender Moment seiner Laufbahn war der Einfluss seines Professors Mathías Goeritz an der Universidad Nacional Autónoma de México. Der Künstler und Architekturtheoretiker ermutigte den jungen Senosiain zu einem freien, nicht-linearen Gestaltungsdenken und öffnete seinen Blick für eine Architektur jenseits rationalistischer Raster. Senosiain begann, Räume als Erweiterung des Körpers und als Ausdruck einer tieferen Verbindung zur Natur zu verstehen.
Ein erstes gebautes Manifest dieser Haltung entstand Anfang der 1980er-Jahre: die Casa Orgánica, ein unterirdisches Wohnhaus, das sich wie ein lebendiger Organismus in die Erde schmiegt. Zwei ovale Volumen – eines dem Wohnen gewidmet, eines dem Rückzug – verbunden durch einen schmalen, tunnelartigen Gang. Die Räume liegen unter einer begrünten Kuppel, das Haus ist thermisch ausgeglichen, die Grenzen zwischen Architektur und Gelände verschwimmen.
Ein weiteres Beispiel ist der 1995 fertiggestellte Conjunto Satélite. Der Komplex umfasst vier Häuser, die jeweils ein eigenes Design und einen eigenen Grundriss haben. Allen gemeinsam sind die geschwungenen Formen und leuchtenden Farben, die einen organischen und dynamischen Lebensraum schaffen.
Fantasiereich
Auch spätere Projekte greifen diese Idee auf – mit grösserem Massstab und stärkerer landschaftlicher Einbindung. Besonders deutlich zeigt sich das im Parque Quetzalcóatl, einer weitläufigen Parkanlage am Rand von Mexiko-Stadt. Zwischen natürlichen Höhlen und dichtem Grün windet sich eine monumentale Struktur in Form einer gefiederten Schlange durch das Gelände. Ihre schimmernde Haut changiert je nach Lichteinfall zwischen Goldgrün und Violettblau. Eingelassen in diese begehbare Skulptur sind zehn Apartments. Das sogenannte Nido de Quetzalcóatl ist weniger ein Bauwerk als ein begehbares Landschaftsgemälde – ein hybrider Ort zwischen Mythos, Naturraum und Architektur.
Natur im Zentrum
Trotz ihrer expressiven Formensprache beruhen Senosiains Arbeiten auf ökologischen Prinzipien. Seine Gebäude nutzen natürliche Dämmung, Erdüberdeckung, passive Kühlung und eine präzise Lichtführung. Erde, Pflanzen, Luft und Licht sind nicht nur gestalterische, sondern auch funktionale Elemente.
In einer Zeit, in der Architektur häufig auf Effizienz, Normen und technische Optimierung ausgerichtet ist, wirken Senosiains Entwürfe wie poetische Gegenbilder. Und doch berühren sie eine der zentralen Fragen unserer Gegenwart: Wie können wir mit der Natur leben, ohne sie zu verdrängen?