
Das Zelthaus bietet Raum für fünf Bewohner:innen und erweitert das gemeinschaftliche Wohnen im Park dieses Herrschaftshauses von 1928.
Wie so viele glückliche Partnerschaften begann auch diese Zusammenarbeit online: Auf einer Plattform suchte eine Bauherrschaft nach einem Architekturbüro, das eine gemeinschaftliche Wohnform im Park eines historischen Herrschaftsgebäudes von 1928 in Biel umsetzen würde. Darauf meldeten sich Verve Architekten, und nach einer Studie kam es direkt zum Auftrag. Der Bauherrschaft schwebte vor, die fünf Wohneinheiten im Herrschaftshaus auf dem grosszügigen Grundstück zu erweitern, sodass dort mindestens 15 Personen zusammenleben können. Ursprünglich war ein Anbau an das Herrschaftshaus angedacht, doch es fand sich keine zufriedenstellende Lösung, die Denkmalpflege und Architekten überzeugte. So entstand die Idee eines zweiten Gebäudes. Dies sollte den Bestandsbau keinesfalls konkurrenzieren, sondern sich durch einen gewollten Kontrast abheben. Architekt Roman Tschachtli erzählt im Interview, was die Herausforderungen und Highlights des Projekts waren und wie es zur aussergewöhnlichen Geometrie des Baus kam.

Die Ecke auf Seite des Bestandes ist abgesenkt, sodass sich der Neubau der historischen Villa klar unterordnet.

Auch die alte Blutbuche war ausschlaggebend für die zeltartige Geometrie des Gebäudes.
Herr Tschachtli, wie ist das Konzept für das Zelthaus entstanden?
Roman Tschachtli: Es war eigentlich sehr pragmatisch: Wir haben die maximal mögliche Grundfläche, die man auf der Parzelle bebauen konnte, realisiert. Den Grundriss haben wir auf drei Seiten direkt auf die Baulinien gesetzt, zur alten Villa hin haben wir acht Meter Gebäudeabstand bewahrt. Daraus ergaben sich die Form und die rund 130 Quadratmeter der Grundfläche. Von der Höhe her war die grosse Blutbuche massgebend, die zwar nicht offiziell geschützt ist, aber für uns Schutzstatus hatte. So blieben wir auf dieser Seite mit der Gebäudehöhe sehr tief. Auch auf Seite der Villa haben wir die Höhe heruntergedrückt, um den Neubau dem Bestand klar unterzuordnen. Dadurch integriert sich das Gebäude gut in den Park und wir konnten die Denkmalpflege sowie die Stadt vom Bauvorhaben überzeugen.
Wenn man merkt, dass alle Leute am gleichen Strang ziehen, ist plötzlich ganz viel möglich, auch im Bauwesen wo sonst alles stark standardisiert und normiert ist.
Was war die Überlegung hinter der Begrünung des Gebäudes?
RT: Einerseits wollten wir das Gebäude noch besser in die Landschaft integrieren. Auch der Park an sich war ausschlaggebend: Wir haben ihm mit dem Neubau 130 Quadratmeter Boden entzogen. Dank dem Rankengerüst aus rund einem Kilometer Armierungseisen haben die Flora und Fauna die Möglichkeit, diesen Raum wieder einzunehmen. Aber die Begrünung dient auch als organischer Sonnenschutz. Die Bauherrschaft ist begeistert vom Schattenwurf des Pflanzendachs – es entstehen ganz andere Lichtstimmungen als unter einem textilen Sonnenschutz oder unter Lamellenstoren.
Konstruktiv war das Rankengerüst gar nicht so einfach zu realisieren: Wir mussten den Holzbau komplett abdichten und darauf die Metallstruktur anbringen. Es war zudem anspruchsvoll, einen Unternehmer zu finden, der bereit war, das Gerüst vor Ort ganz ohne Tragwerksingenieur:in zusammenzuschweissen und zu -schrauben. Mit dieser Herangehensweise haben wir viel riskiert, aber die Bauherrschaft war auch bereit dazu, das Risiko zu übernehmen. Das war besonders bei diesem Projekt: Wenn man merkt, dass alle Leute am gleichen Strang ziehen, ist plötzlich ganz viel möglich, auch im Bauwesen wo sonst alles stark standardisiert und normiert ist. Hier hatten wir das Glück, dass alle drei Parteien mitgemacht haben.

Die Pläne zeigen die aussergewöhnliche Form des Grundrisses...

...sowie das Dreiecksraster, auf dem das Tragwerk des Hauses aufgebaut ist.
Gab es noch weitere Herausforderungen bei diesem Projekt?
RT: Die Geometrie des Hauses war definitiv eine Herausforderung. Wir haben bemerkt, dass sich in den Grundriss ein gleichschenkliges Dreieck einschreiben lässt. So haben wir das ganze Haus auf einem Dreiecksraster aufgebaut. Das hat beim Tragwerk einige Fragen aufgeworfen, es sind ganz andere Winkel und Knotenpunkte entstanden. Zum Beispiel laufen an einer Stelle sechs Achsen auf eine Stütze zusammen. Wir entschlossen uns, die Stütze rund zu gestalten. Das warf sofort die Frage auf, wie man eine Wand an eine runde Stütze anschliesst. Vieles haben wir mit dem Ingenieur eigens für dieses Projekt entwickelt und intensiv im CAD mit 3D-Visualisierungen erarbeitet.
Bei der Aufrichtung war die Blutbuche unter anderem ein Hindernis. Wir konnten nicht mit einem konventionellen Kran arbeiten und mussten die Holzbauelemente deshalb auch kleiner halten als sonst. Wir brauchten zudem ein Unternehmen, das bereit war, so etwas Komplexes umzusetzen. Es brauchte von allen viel Offenheit, bis hin zu den Bauarbeitern.
Speziell ist auch, dass das Gebäude zu drei Vierteln schwebt. Wegen der Wurzeln des Baumes steht es auf Mikropfählen, nur im Norden ist ein kleiner Teil unterkellert. Hier war die Herausforderung, einen Pfahlbauer zu finden, der bereit war, gemeinsam mit der Baumpflegerin die Wurzeln zu sondieren. So konnten wir die Pfähle schlussendlich sehr genau auf den sechs Tragwerksachsen platzieren, ohne die Wurzeln zu beschädigen. Bis jetzt geht es dem Baum gut, worüber wir sehr froh sind, denn er ist wichtig für das Verständnis des Gebäudes.
Es brauchte von allen viel Offenheit, bis hin zu den Bauarbeitern.
Welche Materialien kamen zum Einsatz?
RT: Es ist ein Holzbau, die Dämmungen sind ebenfalls aus Holz oder Zellulose. Die Ausfachungen haben wir mit Lehmplatten gemacht, die wir doppelt verbaut haben. So haben sie eine gute Speicherfähigkeit und sorgen für ein gutes Raumklima. Aussen haben wir eine Kautschukfolie verwendet, um den Holzbau vor dem Rankengerüst und der Begrünung zu schützen.
Ist Ihnen das Arbeiten mit natürlichen Materialien ein Anliegen?
RT: Ja, das war für uns sowie für die Bauherrschaft wichtig. Wenn möglich arbeiten wir mit Holz und Lehm. Spannend an diesem Bau ist auch das Heizsystem. Anfangs war eine Hypokausten-Heizung geplant, so wie es die Römer noch hatten. Dabei zirkuliert warme Luft in den Wänden. Dann wurde der Bauherr aber auf das Pyrolyseverfahren aufmerksam und war davon begeistert. So haben wir im Bestand einen Schnitzelbunker erstellt und die erste vollautomatisierte Pyrolyseheizung in der Schweiz eingebaut. Sie ist ein Prototyp und stammt von Ingenieuren aus Basel, die die Pyrolyseheizung erstmals für kleinere Gebäude adaptiert haben. Die Schnitzel werden bei diesem Heizverfahren nicht verbrannt, sondern nur verkohlt. So kann das Material weiterverwedet werden und das CO2 bleibt gebunden. Rechnerisch heizt man somit CO2-neutral. Die Kohle haben wir auch im Haus verwendet und unter den Verputz gemischt. Zusammen mit dem Gipser haben wir lange nach den richtigen Mischverhältnissen gesucht. Der Vorteil dieses Materials ist, dass es sehr porös ist und so eine grosse Oberfläche hat, die viel Feuchtigkeit aufnimmt.

Die Ausarbeitung des Tragwerks bis ins letzte Detail...

... war ein Highlight für Verve Architekten.
Was war Ihr persönliches Highlight bei diesem Projekt?
RT: Das war für mich die Aufrichtung. Wir sind noch nie so weit gegangen in der 3D-Planung wie bei diesem Projekt, alles war bis ins letzte Detail ausgefeilt. Der Holzbauingenieur hat schlussendlich noch alles CNC-tauglich gemacht und die Verbindungsmittel eingeplant, aber die Geometrie war unser Entwurf. Als dann vor Ort wirklich alles so wie geplant geliefert wurde und wir es das erste Mal vor uns sahen, war das schon besonders. Das ist im Holzbau anders als beim Massivbau, wo die Pläne in 2D ausgedruckt werden und der Ingenieur daraus Armierungslisten, Schalungspläne, etc. erstellt. Hier konnten wir das Tragwerk bis zum Schluss definieren, das war ein Highlight für unser Büro.