Räume kommunizieren über alle Sinne

Interview: Raumreaktion

Patrick Müller, Caroline Spirig und Anika Müller von Raumreaktion stehen draussen vor einem Hauseingang.

Raumreaktion: Patrick Müller, Caroline Spirig und Anika Müller.

Bei der Innenraumgestaltung im halböffentlichen Sektor orientiert man sich meist an funktionalen und praktischen Lösungen. Dabei geht ein wichtiger Faktor vergessen – die emotionale Komponente. Raumreaktion arbeitet nutzerzentriert und legt das Gewicht darauf, was der Raum in seiner Gestaltung emotional transportieren muss.

«Räume kommunizieren mit uns über alle Sinne», so Caroline Spirig, «fühlen wir uns in einem Raum wohl, entspannt sich unser Nervensystem. Erst dann sind wir wirklich aufnahmefähig. Im Umkehrschluss kann es sein, dass mich eine Räumlichkeit in meiner Konzentration und Arbeit beeinträchtigt».  In ihrer Arbeit setzen sich Caroline Spirig, Anika Müller und Patrick Müller deshalb als erstes vertieft mit den Bedürfnissen der Nutzer:innen auseinander.

Im Interview erzählen Caroline Spirig und Anika Müller, was bei der Innenraumgestaltung nicht vernachlässigt werden darf und welchen positiven Einfluss eine Innenraumgestaltung, die die emotionale Komponente miteinbezieht auf den Leistungsnachweis eines öffentlichen Gymnasiums in Süddeutschland verzeichnen konnte.

Schüler sitzt auf hellblauem Sitzsack vor Wand.

Für die Technische Berufsschule Zürich zeichnen Raumreaktion für Bedarfsanalyse, Konzept, Entwurf sowie Ausführung und Bauleitung verantwortlich.

Schüler sind auf Hochtischen am Arbeiten, links steht ein graues Sofa.

Das Projekt wurde 2021 abgeschlossen.

Sie arbeiten an der Schnittstelle zwischen Menschen, Arbeit und Raum – können Sie das genauer erklären?
Raumreaktion:
 Kurz gesagt: Wir Menschen sind biopsychosoziale Systeme. Das bedeutet, dass die Räumlichkeiten, in denen wir uns tagtäglich bewegen als Teil der sozialen Bedingungen mit eine Rolle spielen. Der Mensch allein ist bereits ein Ökosystem, das sich fortwährend auf allen Sinnesebenen reguliert. Dieses System wird durch die Innenarchitektur sozusagen athmosphärisch eingehüllt. Für uns bedeutet das: wir möchten Räume gestalten, die bei den Menschen das fördern und unterstützen, was im Raum auch geschehen soll. Gerade in Arbeitsräumlichkeiten wollen wir durch die Architektur Sicherheit transportieren und das Stresslevel, wenn nicht minimieren, dann wenigstens nicht noch verstärken.

Wir kommen von einer ganzheitlichen Denkweise nicht mehr weg. Ein Raum ist für uns nicht nur eine neutrale Hülle, sondern immer mitprägend für die Kultur einer Firma, Schule oder Gemeinschaft. Die verschiedenen Bereiche sind miteinander verbunden und es bestehen Wechselwirkungen, welchen wir versuchen, gerecht zu werden, indem wir ihnen Gewicht geben. Bevor wir mit einem Konzept beginnen, investieren wir viel Zeit im Studium dieser Schnittstellen.

Wie ist Raumreaktion entstanden und wie war ihr Werdegang?
Caroline Spirig: Anika und ich haben uns privat bereits gekannt und haben uns an der New York School of Interior Design wieder getroffen. Ich bin nach eineinhalb Jahren zurück in die Schweiz gekommen, wo ich meine psychologische Arbeit wieder aufgenommen habe. Die Innenarchitektur und ihre Interaktion mit dem Mensch haben mich jedoch nie losgelassen. Nachdem Anika in die Schweiz zurückkehrte, haben wir die Idee sofort aufgenommen und mit unserem ersten Projekt, einer Schule in St. Gallen, Raumreaktion gegründet. Mit im Bund war von Anfang an Patrick, Anikas Bruder, der Schreiner und Industrial Designer ist.
Anika Müller:  Als wir uns entschlossen haben zusammenzuarbeiten, war der Mix unserer Kompetenzbereiche ein «Match». Ich war zuvor sechs Jahre in den USA und fand es immer sehr bereichernd in der Innenarchitektur zu arbeiten. Was mir aber fehlte, war ein Dialog der nebst Funktionalität das Design eben auch mit dem Menschen und dessen Empfindungen verbindet. Also die Wechselwirkung von Raum und Körper/Mensch. Was macht eine eckige oder weiche Formsprache aus? Welche Farbkontraste oder Farbkombinationen regen an und welche beruhigen das Nervensystem? Wie reagiert der Mensch auf Lichtkontraste. Wie beeinflusst uns Symbolik im Raum? Diese Wechselwirkungen werden immer mehr erforscht und diese Evidenz kann als wertvolle Grundlage für Designentscheidungen gelten.

Mit welchen Herausforderungen sind Sie bei der Arbeit konfrontiert? Hat sich das durch die vergangenen zwei Jahre mit der Pandemie und den verändernden Arbeits- und Wohnsituationen nochmals verändert?
Anika Müller:
 Wir sind kein konventionelles Innenarchitekturbüro.  Unsere Arbeite findet interdisziplinär statt und unser Prozess beleuchtet die Nutzerbedürfnisse. Mit dieser Basis gehen wir dann in die Gestaltung. Diese Herangehensweise war für viele Neuland und wir spürten zu Beginn auch Berührungsängste. Die Bereitschaft, die Bedürfnisse auf allen hierarchischen Ebenen aufzunehmen, braucht Vertrauen, Mut und Offenheit der Führung. Durch die Pandemie wurde die Bedeutung des Arbeitens und des Arbeitsraumes aufgebrochen. Viele starre Strukturen, auch in der Unternehmungsführung, haben sich verändert. Die soziale und räumliche Distanz beschleunigten neues Denken und leiteten eine Werteänderung ein. Der Mensch rückte mehr in den Mittelpunkt. Das Führungsdenken von Kontrolle hin zu Vertrauen wurde verstärkt. Dieses neue Verständnis bereichert unser Arbeiten stark.
Caroline Spirig: Die Pandemie führte auch zu einer neuen Art von Bereitschaft, Veränderungen überhaupt zuzulassen. Man könnte sagen, es gab einen Richtungswechsel hin zu mehr Menschlichkeit.

Raum mit verschiedenen Tischen und Sitzmöglichkeiten.

Die Lernoase an der TBZ: «Der Begriff der Oase steht einerseits für “eine fruchtbare Stelle” und andererseits für “Ruhepunkt”. So soll die Lernoase Ort für Entwicklung, Lernfortschritt sowie ein Ort der Sicherheit und Erholung sein. Kurzum: eine Umgebung in der die Lernenden sich gleichzeitig erden und mit den Gedanken fliegen können».

Welche Veränderungen sehen Sie in der Bürolandschaft?
Raumreaktion: Beobachtbar ist eine Loslösung von Mensch und Raum, das heisst Büroflächen haben an Bedeutung verloren. Früher kam man ins Büro, um zu arbeiten. Heute sind die Gründe andere, man kommt für die Erfahrung und um sich zu verbinden ins Büro. Es geht heute wieder mehr um die Zugehörigkeit und dass man die Unternehmenskultur spüren kann. Das hat zur Folge, dass die Büroplanung nicht mehr so hierarchisch ist, was die Sitzordnung anbelangt. Heute ist mehr Flexibilität gefordert und neue Komponenten wie die Akustik oder Beleuchtung werden wichtiger.

In Ihrem Portfolio finden sich Projekte von Schulen und Bildungsinstitutionen. Wie haben sich Schulen in den vergangenen Jahren verändert?
Caroline Spirig: Noch  in meiner Primarschulzeit war durchgehender Frontalunterricht Standard. Das Wissen kam ausschliesslich von vorne, also von der Lehrperson und bedeutete gleichzeitig auch eine grosse Abhängigkeit. Davon haben wir uns stark entfernt. Dank Studien wissen wir, dass auschliesslicher Frontalunterricht nicht effizient ist und ein Kind neurobiologisch überhaupt gar nicht in der Lage ist, so viele Stunden zuzuhören und Wissen aufzusaugen. Mit dem Lehrplan 21 rückten dann mehr überfachliche Kompetenzen in den Vordergrund wie das selbstorientierte Lernen. Schüler:innen können sich  nun eigene Ziele setzen verfolgen und sich selbst überprüfen. Die oft noch starr aufgebauten Klassenzimmer können diese Lernphasen leider beeinträchtigen und die Lehrpersonen in ihrer Motivation innovativer zu unterrichten bremsen.
Anika Müller: Privatschulen sind agiler und schneller, wenn es um Entscheidungen geht. Bei einem Projekt, das wir dieses Jahr abgeschlossen haben – eine öffentliche Schule –war jedoch der Bürgermeister selbst äusserst innovativ und engagiert und hat die Entscheidungsprozesse stark mitgeprägt. Die Realität zeigt auch, dass es nicht nur eine räumliche Frage, sondern auch eine Frage der Infrastruktur ist, die mitspielt. Öffentliche Schulen sind mehr an politische Strukturen gebunden. Unser Wunsch ist natürlich, neben Privatschulen vor allem öffentliche Schulen mitbegleiten zu dürfen.

Wie sieht das aus, wenn sie die Schüler:innen in den Prozess einbeziehen?
Caroline Spirig: An der Schule  in Deutschland z.B. waren die Voraussetzungen für den Einbezug ideal. Die Schule selbst ist in ihrer Demokratisierung so weit, dass die Schüler:nnen in verschiedenen Bereichen bereits viel Verantwortung übernehmen und die Lehrpersonen somit auch entlasten, damit diese sich mehr auf ihr Kerngeschäft fokussieren können. Die Schüler:nnen organisieren Sitzungen, haben die Regeln und Unterhalt des sogenannten Worldcafés im Griff und nehmen Teil an verschiedenen Entscheidungsprozessen, die die gesamte Schulkultur betrifft. So auch die Innenarchitektur. So kam es zu einem regelmässigen Austausch  mit ihnen. Dasselbe galt für die Lehrpersonen. Einige unter ihnen hatten Mühe, sich von der  Idee eines  «Lehrerzimmers» oder der «Klassenräume zu verabschieden. Da ist es uns wichtig nicht einfach stur Räume wegzustreichen sondern zu eruieren, welche Bedürfnisse mit solchen Räumen denn befriedigt werden sollen. Diese Bedürfnisse nehmen wir auf und behalten ein Auge darauf. Am Gymnasium der ASW in Wutöschingen haben wir für die Lehrpersonen andere Rückzugsmöglichkeiten geschaffen, sowie zwei Meditationsräume, die für alle zugänglich sind. Solche Raumprogramme entstehen nur in 1:1-Gesprächen mit den Nutzer:innen.

Ausbau einer der innovativsten Schulen Deutschlands: Die Allemannenschule Wutöschingen – im Zentrum steht hier ein 400m2 grosser Co-Working-Space.

Das Spezielle an dieser Schule ist: Es gibt keine Lehrer- und Klassenzimmer.

Die Innenarchitektur der Oberstufe unterstützt das pädagogische Konzept, indem sie das fördert, was in den verschiedenen Räumen und Zonen geschehen muss. Die Innenarchitektur lebt von der immerwährenden Spannung zwischen den Polen der Zugehörigkeit, der Erdung und auf der anderen Seite dem Pol der Vision, dem Ausfliegen und des Forschergeistes.

Wo steht die Schweiz im internationalen Vergleich?
Anika Müller: Die Schweiz ist ein Innovationsland, wenn es um Forschung oder Nachhaltigkeit geht und wird von aussen bewundert für die Architektur, das Handwerk und die sicheren Werte, die das Land ausmachen. In der Innenarchitektur spüre ich dies in Bezug auf den gestalterischen oder künstlerischen Aspekt weniger. Aber es passt hier vielleicht auch weniger zum Umfeld. Es sind wie zwei Gegenpole. Innovation passiert meistens da, wo Chaos ist. Die Schweiz ist aufgeräumt und bietet wenig Raum für Neues. Wir versuchen da immer wieder Samen zu setzen.

Was nervt Sie am Status Quo?
Caroline Spirig: Mich stören gerade Aussagen im Schulbereich wie:  «ein Tisch ist ein Tisch und ein Stuhl ist ein Stuhl, Hauptsache die Funktion passt». Nach dem Motto, es ist alles nur Geschmacksache und Ästhetik soll irgendwo anders ausgelebt werden. Gerade in Schulen, wo sich die Kinder gezwungenermassen beheimatet und wohl fühlen müssen, um überhaupt lernen zu können. Ich muss mich wohl und sicher fühlen, erst dann entspannt sich mein System, so dass ich Informationen aufnehmen und logisch verarbeiten kann. Ist dem nicht so, befindet mein Nervensystem sich in einem alerten Zustand. Zudem soll Bildung doch auch unbedingt lustvoll sein. Und die Umgebung schön und freundlich. Doris Fratton, eine Innenarchitektin, die mich in ihrem Denken sehr geprägt hat, sagte einmal: «Wenn wir Schulen vandalensicher machen, ziehen wir auch Vandalen heran». Damit hat sie recht. Im Gegensatz dazu fördern wir in den Kindern ihre Achtsamkeit und den Respekt vor Mensch und Material, wenn wir ihnen auch Hochwertiges und vielleicht sogar einmal etwas Zerbrechliches anvertrauen.

Sie haben es bereits angesprochen: Wie stark beeinflusst eine Raumgestaltung die Nutzer:innen denn effektiv in Bezug auf Arbeitsbereitschaft, Motivation, Produktivität und Zufriedenheit?
Caroline Spirig: Machen wir uns nichts vor. Die Architektur ist wahnsinnig wichtig –doch wie es Loris Malaguzzi aus der Reggio Pädagogik postuliert: Der Raum ist «erst» der dritte Pädagoge. Der erste Pädagoge sind die anderen Kinder, der zweite die Lehrpersonen. Und doch ist Prägung des Raums nicht wegzudenken. Wenn wir es in der Architektur schaffen, das Lernen wenigstens durch die Räumlichkeiten nicht «zu verhindern» ist schon viel geschafft! Wenn es dem Schulsystem gelingt, dass ein Kind nach seiner  obligatorischen Schulzeit Lernen gelernt hat und es ihm nicht verdorben wurde, ist das Allerwichtigste erreicht.

«KIK» oder auch Kontemplation, Information und Konsolidierung genannt, ist die Lernstruktur, die die räumliche Gestaltung definiert. 

Lernpartner:innen setzen sich mit den Zielen auseinander, machen sich Gedanken und knüpfen an Vorwissen an. Das ist die Basis für den zweiten Schritt: die Information. Hier treffen sie Fachbegleiter:innen und erhalten anhand eines Inputs Informationen und Klärungen zu den Zielen.

In Phase drei, der Konsolidierungsphase, findet die eigentliche Vertiefungsphase mit dem Lernstoff statt. Dies darf dann auch in gemütlicher Atmosphäre geschehen.

Was macht für Sie ein gutes Raumambiente aus?
Anika Müller: Das Verständnis der Nutzerbedürfnisse ist komplex und die Antworten vielfältig. Daher gibt es keine universellen Gestaltungslösungen. Gestaltungselemente wie Form- und Materialsprache, Beleuchtung, Akustik, Symbolik und Farben sind alles wertvolle Instrumente. Ein gutes Raumambiente herrscht in einem Raum, dessen Gestaltungselemente individuell und konkret auf den Menschen angepasst und eingestimmt werden können.

Wie vermittelt man Werte wie Raumqualität, gerade in Schulen? Werden Kinder heute früher auf Umwelt und Architektur sensibilisiert?
Raumreaktion: Das Schöne ist, diese Raumqualität braucht keinen Vermittler. Wenn man in einen Raum läuft und sich alles stimmig anfühlt, fühlt man sich automatisch wohl. Das oberste Ziel von Architektur ist, dass man das umsetzen und fördern kann.

Wie sieht die Schule der Zukunft aus?
Raumreaktion: Die Zukunft der Schule ist offener in der Zirkulation, Jahrgangsübergreifender, digitaler, mit mehr Selbstverantwortung und weg vom Lehrer als Wissensvermittler hin zum Coach und Begleiter. Das heisst, es braucht mehr Rückzugsräume, Bereiche für Inputs, Zonen für Präsentationen und Arbeit in Teams. Dass was der Lernplan 21 vorgibt, selbständige Arbeit, bedingt ein Umfeld, welches dies auch zulässt und das geht mit einem starr aufgebauten Klassenzimmer nur schleppend. Für die Förderung fachübergreifender Kompetenzen wie Flexibilität, Ausdauer, Kreativität und die Verbindung von Praxis und Theorie brauchen die Lernenden ein Umfeld, welches das begünstigt und unterstützt.

Was wäre ein Wunschprojekt, das Sie in Zukunft realisieren möchten?
Caroline Spirig: Ehrlich gesagt, träume ich davon, eine integrativ ausgerichtete psychiatrische Klinik mitentwerfen zu können. Die Erfahrung zeigt, dass die Räumlichkeiten in den Kliniken leider oftmals atmosphärisch alles andere als heilungsfördernd sind. Es braucht Räume und ein Umfeld, die Menschen mit einem dysregulierten Nervensystem einen Boden geben. Allgemein gibt es im Gesundheitsbereich sehr viel Luft nach oben.

www.raumreaktion.ch

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