Mitten im Dorf Jonschwil im Alttoggenburg stand sie – die alte Remise», erinnert sich Lukas Lenherr. «Früher wurde sie mit ‹Schilte Siebni› benannt, was jeweils für dasjenige Gebäude im Dorf üblich war, das am schiefsten in die Gegend ragte.» Diese Remise musste vor Jahren konstruktiv gesichert werden, damit sie nicht in sich zusammenfiel. Der Architekt, dessen Vater Besitzer der Restfläche mit Remise mitten in Jonschwil ist, liess sich von der verzwickten baulichen Situation nicht abhalten und entwickelte ein überzeugendes und überraschendes Konzept. Er baute drei zueinander abgedrehte Räume in diese alte Remise. «Diese Stapelung öffnet einen spiralförmigen und vertikal nach oben verlaufenden Lebensraum durch alle drei Stockwerke hindurch», beschreibt Lenherr.
Auf dem quadratischen Grundriss von sechs mal sechs Metern steht nun ein kleines, kompaktes Haus mit 99 Quadratmetern Wohnfläche. Die Öffnungen im Innern verknüpfen die Räume, grosse Fenster schaffen Bezüge zur nahen Umgebung – spannende Durch-, Ein- und Ausblicke entstehen. Für den Architekten erinnern die Verhältnisse gar an japanische Raumkonstellationen. Das Haus hat keine Korridore, sondern besteht aus einer Sequenz von Räumen. «Diese lassen sich in verschiedenen Abfolgen erleben und mit horizontalen Netzen durchaus im Schwebezustand erfahren», so der Architekt.
Die Materialien sind natürlich belassen, ersichtlich reduziert und vielfach zweckentfremdet eingebaut. Die Spuren der Arbeiten sind Teil des Ganzen. Die Gegensätze und Sprünge der Werkstoffe treffen ohne Kaschierungen aufeinander. Einen Keller hat das Haus wegen des Grundwassers keinen und die Technik findet Platz in einem «Schrank» im Waschraum. Klein heisst, auch wenig Volumen heizen zu müssen. Eine dicke Dämmung aus Holzfaser und Schafwolle schützt das Gebäude. Der Holzofen wird unterstützt durch eine Bodenheizung im einfach geschliffenen Unterlagsboden. Die Witterung wird die Holzfassade mit ihren Kanthölzern aus heimischer Lärche und den einfachen Holzfenstern aus Föhre über die Jahre zeichnen. Gemäss dem Ortsbildschutz nimmt der zurückhaltende Bau auf der ganzen Länge Bezug zum historischen Kontext und prägt den Ort damit nachhaltig.
Die Baumaterialien sind demontierbar und wieder verwendbar. «Das Haus kann quasi als ein Lager an Baumaterialien betrachtet werden», erklärt Lenherr. Nach diesem Prinzip der Wiederverwendung funk-tioniert auch die Küche – ein Holzgestell, in dem die Apparate – von einer Bauteilbörse stammend – hineingestellt werden. «Der kleine Fussabdruck bietet genug Platz für eine Familie mit zwei Kindern. Der vertikale Wohnraum verbindet alle Zimmer, und das Wohnen auf kleinstem Raum wird so zum Ereignis, das Verbindungen schafft», beschreibt Lukas Lenherr. «Dem Fussabdruck folgen auch tiefe Baukosten. Ferner kommt ein niedriger Energieverbrauch dazu, was kleine Nebenkosten mit sich bringt. Reduktion und Verzicht sind für mich zwei sehr wichtige Vertreter der Nachhaltigkeit – und bekanntlich ist weniger ja mehr.» Dass die Umgebung ebenfalls klein ist, ist für den Architekten eher Zufall. Auf jeden Fall ist sie pflegeleichter und bietet Platz für einen Gemüsegarten, den es auf Kosten des Parkplatzes gibt.
Für die fünfköpfige Jury des Architekturpreises «Das beste Einfamilienhaus» liefert die minimalistische Haltung sowohl in Bezug auf den Raum als auch auf die Konstruktion und den reduzierten Einsatz von Technik eine ganzheitliche Antwort auf viele Fragen der Nachhaltigkeit. «Die Angemessenheit des Projekts im städtebaulichen Kontext ist ein wertvoller Beitrag einer adäquaten Aktivierung von dörflichem Leben», so die Jurypräsidentin Barbara Holzer. Patrick Schmid, einer der Sieger des Architekturpreises im Jahr 2018 und Jurymitglied der aktuellen Ausmarchung ist vom Entwurf von Lukas Lenherr sehr angetan. Für ihn zeigt das Projekt in der Zeit von Klimadebatte und der Diskussion um Ressourcen neue Wege auf.
Was ist der Minimalbedarf an Wohnraum, den eine Familie benötigt?
Patrick Schmid: Das Haus in Jonschwil ist räumlich sowie funktional hoch verdichtet und bietet trotzdem Grosszügigkeit und räumliche Überraschungsmomente.
Was ist der minimale Ausbaustandard, der Wohnlichkeit entstehen lässt?
PS: Das sichtbar belassene konstruktive Tragwerk der alten Scheune prägt die Räume und verleiht ihnen Charakter und Geschichte. Der zusätzliche Aus- und Neubau ist bewusst collagiert und «gebastelt» im Ausdruck. Es schimmert eine gewisse Do-it-yourself-Mentalität durch mit minimalem Ressourcenverbrauch, ein Um- und Weiterbauen im Sinne von Anpassungen an kommende Bedürfnisse scheint damit sehr unkompliziert und mit einer gut ausgerüsteten Werkzeugkiste machbar. Eine sehr nachhaltige Einstellung!
Wie kann bestehende Bausubstanz in ein neues Projekt miteinbezogen werden?
PS: Das Grundgerüst einer alten Scheune wird neu eingekleidet und ausgebaut. Die Ansprüche und Möglichkeiten richten sich nach dem, was schon vorhanden ist.
Auf welche Teile eines herkömmlichen Einfamilienhauses kann vielleicht verzichtet werden?
PS: Der Verzicht auf ein Untergeschoss und damit auf Stauraum weist auf ein alternatives Lebensmodell hin, das mit einem Minimum an Besitzstand auskommt. Die minimal ausgebildete Haustechnik findet in einem «Schrank» im Waschraum, unmittelbar beim Eingangsbereich, ihren Platz. Das Fehlen eines Autoparkplatzes geht in dieselbe Richtung.
Wie kann ein einfaches Wohnhaus ein integrierter Teil eines räumlichen Dorfgefüges werden?
PS: Das Haus steht direkt an der Strasse und versucht nicht, wie bei Einfamilienhäusern üblich, ein eigenes «Gärtli» vom öffentlichen Raum abzugrenzen. Es bildet einen integrierenden Teil des Dorfgefüges und kommuniziert so auch sehr direkt mit seinem Umfeld. Das Projekt zeigt vor, wie eine räumliche und soziale Verdichtung unserer Dörfer erreicht werden kann. Wohnen wir im Kern unserer Dörfer und nicht an deren Ränder! Das wird möglich, wenn man Restgrundstücke und Nischen ausnützt und bereit ist, Kompromisse in Kauf zu nehmen.
Was kann Flexibilität bedeuten im Wohnungsbau?
PS: Seine prominente Lage, sein räumlicher Charakter und die fehlenden Merkmale von Wohnhausarchitektur im Äusseren regen sogar dazu an, sich für das Gebäude in Zukunft andere Nutzungen vorzustellen, wie etwa ein Jugendhaus, eine Kinderkrippe oder -garten und so weiter. All diese Nutzungen könnten sich ideal einnisten in diesem Gebäude. Diese programmatische Offenheit ist für ein privates Wohnhaus bemerkenswert!
Lukas Lenherr
In der Überzeugung, dass jeder Ort Erinnerungen und Geschichten ablagert und somit selber eine Geschichte zu erzählen hat, interessieren Lukas Lenherr historische Befunde, wie sich Menschen in Räumen bewegen, welche Geschichten es von diesen Orten zu erzählen gibt und wie er sie mit seiner Architektur weitererzählen kann. Die Arbeiten des Architekten, der sein Handwerk an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel und Genf sowie an der ETH in Lausanne sowie an der Hochschule für Architektur in Barcelona erlernt hat, basieren auf einem Vertrauen in das Naheliegende, in die materielle und konstruktive Einfachheit. Nach den Ideen der Postwachstumsökonomie werden nachhaltige, soziale und klimatische Herausforderungen mit innovativen Prozessen und Kollaborationen angegangen – Wiederverwendung, Verzicht, lokale Positionierung, Eigenproduktion und klimafreundliche Umsetzung sind zentral.
www.lukaslenherr.ch