Ein Quartier hat sich der Kunst verschrieben

King’s Cross London

The Coal Drops: Einst lagerten in den langgezogenen Backsteingebäuden im King’s Cross Quartier Kohle, mit der in London geheizt wurde, in den 90er Jahren machte sich Londoner Clubleben breit. Thomas Heatherwick hat sie restauriert, mit einem geschwungenen Dach versehen, und als Coal Drops Yard beherbergt die neue Shopping- und Restaurantzone u.a. Paul Smith. Foto: Brigitte Ulmer

 

Jahrelang wurde gebaut und entwickelt. Jetzt erstrahlt das King’s Cross Quartier in neuem Glanz – und schlägt ein weiteres Kapital auf in der mythischen Geschichte des Bahnhofs- und ehemaligen Industrieareals. Das nördlich an die beiden spektakulären Bahnhöfe King’s Cross (1852) und St. Pancras (1868) angrenzende Gelände mit dem ehemaligen Gaswerk, den Getreidespeichern und dem Kohleumschlagplatz war lange das pumpende Herz des viktorianischen England. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es mit dem Quartier jedoch bergab, es kamen die Drogenhändler und die Prostituierten, und das einst so geschäftige Areal verkam zur Elends- und später zur Undergroundpartymeile, sogar die Pet Shop Boys besangen den traurigen Ort.

 

Jacques Rival, «IFO (Identified Flying Object)»: Der überdimensionierte Vogelkäfig leuchtet bei Nacht in bunten Farben, ist neun Meter hoch und begehbar.

The Coal Drops Yard: Im Coal Office logiert das neue Hauptquartier von Tom Dixon mitsamt gleichnamigem Restaurant. In der Nähe sind auch Central Saint Martins, Google und LVMH untergebracht.

Joanne Tatham and Tom O’Sullivan, «Does the iterative fit»: Ein Phantasie-Weihnachtsbaum aus poppigen Formen, Farben und Lichtern stand zeitweise auf dem Granary Square vor der Central Saint Martins School of Art, die im Granary Building, einem ehemaligen Getreidespeicher aus dem Jahr 1852, haust.

Das Gasholders Building in King’s Cross verbindet viktorianisches Ingenieurskunst mit zeitgenössischer Architektur. In den ehemaligen Gaskesseln pflanzten WilkinsonEyre Architects Luxusapartments mit Dreifachverglasung und Balkonen, Sauna und Kino ein. Der perforierte Lichtschutz dynamisiert die runde Fassade.

Die ambitionierte Revitalisierung dauerte rund zehn Jahre, und es wurde alles aufgeboten, was Rang und Namen hat: Thomas Heatherwick überdachte die ehemaligen Güterhallen des Kohlenumschlageplatzes «The Coal Drops» mit zwei geschwungenen Dächern (soeben eröffnet), in das ehemalige Getreidelager zog die Central Saint Martins School of Art ein, mit Tom Dixon und Paul Smith bezogen Englands Design-Gewissen hier Quartier genauso wie Google, Facebook und Deep Mind. David Chipperfield hatte schon zuvor ein stilistisch kühles Geschäftshaus gebaut, und andere preisgekrönte Architekten restaurierten und bauten Geschäfts- und Wohnhäusern, sogar in den ehemaligen Gaskesseln. Sogar einen neuen Postcode erhielt das Quartier: N1C.

Rana Begum, «No. 700 Reflectors»: Über 50 Meter zog sich Installation aus 30'000 industriellen Reflektoren in Zickzack-Form über den Lewis Cubitt Square. Das Werk zwischen Op und Minimal Art spielt mit den traditionell abstrakten Mustern der islamischen Kunst.

Während der Bauarbeiten spielte Kunst eine zentrale Rolle. Die städtischen Behörden knüpften an die Baubewilligung die Auflage, bis zur Fertigstellung insgesamt 1.75 Millionen Pfund für Kunst im öffentlichen Raum auszugeben, aus Marketingbudgets floss noch mehr Geld. Für verschiedene Bauphasen und Perimeter wurden vom Immobilienentwickler Argent Kunstprojekte in Auftrag gegeben, um Leute ins neue Quartier zu locken und dem Ort ein Gepräge zu geben. Die begehbare Neoninstallation von Jacques Rival, die 50 Meter lange zwischen Op Art und Minimal Art oszillierende Installation aus 30'000 Reflektoren von Rana Begum oder Tobias Rehbergs Leuchteninstallation in einem der Gasholder Apartmenthäusern gehören dazu, ephemere und permanente Kunst mischen sich. Das Programm soll nächstes Jahr fortgesetzt werden und Kunst nach dem Willen der Entwickler künftig identitätsstiftender Faktor sein. Mit Tamsin Dillon und Rebecca Heald leiteten zwei namhafte Kuratorinnen das Kunstprogramm von King’s Cross.

 

Tess Jaray, «Aleppo»: Die monumentale Wandinstallation im Tapestry Building besteht aus rosafarbenen, weissen und dunkelvioletten Streifen auf sechs symmetrischen Panelen und inspiriert von einem Besuch des Künstlers in Aleppos Moscheen, deren Türsturz aus Streifen in dunklem Basalt und hellrosafarbenem Sandstein bestehen.

Rasheed Araeen, «Rhapsody in Four Colours»: Die 35-Meter hohe Skulptur des aus Pakistan stammenden 83-jährigen Künstlers, die sich durch das Aga Khan Centre zieht, würdigt die Verbindung geometrischer Abstraktion des 20. Jahrhunderts mit der Ästhetik islamischen Kultur.

Welche Rolle kann, soll Kunst in einem so grossen Bauvorhaben wie King’s Cross einnehmen?
Tamsin Dillon:
 Kunst und Künstler bilden einen wichtigen Teil jeder Form von Gemeinschaft. Darum spielen sie auch in der Neuentwicklung dieses neuen Stadtgebiets eine wichtige Rolle und leisten ihren Beitrag an die Umgebung.

Sehen Sie auch Risiken, wenn Kunst zur Regeneration eines Quartiers eingesetzt wird?
TD:
 Natürlich gibt es immer das Risiko, dass Kunst für Gentrifizierung instrumentalisiert wird. Auf jeden Fall ist es wichtig, dass Künstler beauftragt werden, die an vorderster Front künstlerischer Praxis arbeiten und diese von Anbeginn einbezogen werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass die künstlerische Perspektive gewahrt wird.
Rebecca Heald: Zentral ist, dass alle Leute, alle Parteien, die die Gebäude bewohnen und in ihnen arbeiten werden, während und nach dem Bauprozess einbezogen werden. Nur so kann ein Gefühl von Gemeinsamkeit entstehen.

Was sehen Sie als grösste Schwierigkeit bei einem Projekt dieser Grösse?
RH: Das Schwierigste ist wohl, dass es keine Möglichkeit gibt, sich zu verstecken. Man muss während des ganzen Prozesses mit allen beteiligten Parteien zu kommunizieren.
TD: Meist sind die Probleme sozialer Natur. Wie bezieht man das lokale Publikum ein, wie nähert man sich ihm überhaupt an? Dann gibt es Planungsrestriktionen, Sicherheitsvorschriften, Bauvorschriften verschiedener Behörden, angefangen von der Stadt bis zu den verschiedenen Transportbehörden.  Künstler wollen ja gerne Risiken eingehen. Dafür müssen aber die verschiedenen Stakeholders sensibilisiert und gewonnen werden. 

Tamsin Dillon war Kuratorin an der Tate Liverpool und der Whitechapel Gallery und leitete das Kunstprogramm der Londoner U-Bahn. Rebecca Heald war für die Bloomberg New Contemporaries, Hayward Gallery und die Tate Britain als Kuratorin tätig.

www.kingscross.co.uk/kings-cross-project
www.kingscross.co.uk
www.coaldropsyard.com

Céline Condorelli, «Zanzibar»: Drei separate, übereinandergelegte Formen, die Pflanzen enthalten, verbinden den Innen- mit dem Aussenbereich des R7 Buildings von Duggan Morris. Die Künstlerin war vom legendären Restaurant der italienisch-brasilianischen Architektin Lina Bo Bardi (1914-1992) inspiriert. 

Tobias Rehberger, «Almost Everybody»: Ein spielerisches Arrangement von 41 handgemachten, tropfenförmigen Leuchten aus Glas, in fünf verschiedenen Clusters gruppiert, inszenierte der deutsche Installationskünstler in den Eingangsbereich von neuen Gasholders Building.