
Arbeit am Prototyp: In der Werkstatt bekommt die Sitzschale des Stuhls «AEON» einen Feinschliff.
In einem charmanten alten Backsteingebäude, das von der reichen industriellen Geschichte Englands erzählt, hat der deutsche Designer Mathias Hahn seine kreative Heimat gefunden. Hackney heisst der Stadtteil im angesagten Osten Londons, wo er an minimalistischen, funktionalen Entwürfen arbeitet, die gleichzeitig durch Raffinesse bestechen. Mit renommierten Marken wie Schönbuch, Nanimarquina und Marset pflegt der 47-jährige Designer enge Partnerschaften. Für den Möbelhersteller Zeitraum hat er jüngst die Stuhlserie «AEON» entwickelt, die auf der Orgatec Deutschlandpremiere feierte.
Du hast dich vor knapp 20 Jahren als Designer in London selbstständig gemacht. Was hat dich hierher verschlagen?
Mathias Hahn: Nach meinem Industriedesign-Diplom in Deutschland war ich auf der Suche nach neuen kreativen Impulsen. Dank eines DAAD-Stipendiums konnte ich am Royal College of Art in London Design Products studieren und wurde Teil einer vielfältigen und experimentierfreudigen Designgemeinschaft. Diese Zeit hat mich stark beeinflusst, und der Entschluss, in London zu bleiben, folgte fast zwangsläufig. Obwohl die Selbstständigkeit nie mein ursprünglicher Plan war, ergab sie sich organisch und erlaubte mir, unabhängig zu arbeiten. Londons kreative Szene und die kulturelle Vielfalt waren für meine Entwicklung als Designer äusserst inspirierend.

Exakte Linienführung: Der Armlehne schenkte Mathias Hahn ganz besondere Aufmerksamkeit.

Aus der ersten Idee für das Möbelstück entstand am Ende eine ganze Stuhlfamilie für Zeitraum.
Wie hat sich die Metropole London als Designstadt seitdem verändert?
MH: London bleibt für mich kulturell eine der spannendsten Städte Europas, auch wenn sie heute etwas von ihrer jugendlichen Dynamik eingebüsst hat. Als ich hier anfing, konnten wir in einer unbeheizten Fabrikhalle günstig ein Studio einrichten und in einem Netzwerk von Manufakturen und Werkstätten Prototypen entwickeln. Das war damals schon nicht ganz einfach, aber heute ist die Situation für junge Kreative noch viel schwieriger. Die Mieten sind enorm gestiegen, viele dieser Werkstätten sind verschwunden.
Was hast du aus Deutschland hierher auf die Insel mitgenommen?
MH: Erst im internationalen Umfeld wurde mir klar, wie sehr meinMeine Entwürfe sind geprägt von einer Reduktion auf das Wesentliche, wobei ich visuelle und funktionale Aspekte gleichermassen betone. Design sehe ich als kulturelles Werkzeug, das nicht nur auf minimalistische Formen reduziert werden sollte, sondern auch eine ästhetische, vor allem emotionale Sprache sprechen muss. Mir geht es vor allem darum, wie Objekte im Kontext des Lebens und der Kultur wirken, das ist wunderbar komplex.e deutsche Herkunft mich prägt. Mein analytisches Denken, mein Fokus auf Materialien und Herstellungsprozesse sowie meine direkte Art werden oft als «typisch deutsch» wahrgenommen. Das mag nach Klischee klingen, aber vor allem meine Direktheit sorgt auch nach all den Jahren bei den Briten noch regelmässig für Verwirrung. (lacht)

Der Stuhl ist Mathias Hahns persönliche Interpretation davon, was ihn mit Zeitraum verbindet.
Wie würdest du selbst deine Ästhetik bezeichnen?
MH: Meine Entwürfe sind geprägt von einer Reduktion auf das Wesentliche, wobei ich visuelle und funktionale Aspekte gleichermassen betone. Design sehe ich als kulturelles Werkzeug, das nicht nur auf minimalistische Formen reduziert werden sollte, sondern auch eine ästhetische, vor allem emotionale Sprache sprechen muss. Mir geht es vor allem darum, wie Objekte im Kontext des Lebens und der Kultur wirken, das ist wunderbar komplex.
«Mir geht es vor allem darum, wie Objekte im Kontext des Lebens und der Kultur wirken, das ist wunderbar komplex.»
Wie sieht ein Kreationsprozess bei dir typischerweise aus?
MH: Kreativität entsteht für mich aus Neugier und Offenheit. Ich betrachte die Welt mit einer kindlichen Neugierde, experimentiere viel und lasse mir dabei Zeit, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Ein zentraler Punkt ist für mich, dass meine Entwürfe einen echten Mehrwert bieten und eine Verbindung zu den Menschen aufbauen, die sie verwenden. Ich denke viel darüber nach, wie ein Produkt genutzt wird, welche Emotionen es hervorruft. Und wie es Teil einer grösseren Geschichte wird, die der Nutzer selbst erzählen kann.

Im Atelier des Designers gesellt sich ein Prototyp von «AEON» zu den Sitzmöbeln «Faye» (Schönbuch) und «Another Chair» (Another Country).

Im Regal und an der Wand: Tischspiegel «Ad Mire», Spiegel mit Haken «Ad Ore» und Wandhaken «Ad Hook», alles für Zeitraum entworfen.
Erzählst du uns die Entstehungsgeschichte deiner neuen Stuhlfamilie «AEON», die du für den Möbelhersteller Zeitraum entworfen hast?
MH: Interessanterweise war der Startpunkt eine Eingebung. Wirklich wie man sich das so vorstellt, Kuss der Muse, vor dem inneren Auge erschienen, ganz ohne Briefing. Passiert mir sonst nie! Die Realität ist natürlich, dass diese erste Idee nur entstehen konnte, weil ich mich seit Langem intensiv mit Zeitraum beschäftige und wir uns sehr gut kennen. Die Stuhlserie ist gewissermassen meine persönliche Interpretation dessen, was mich und Zeitraum verbindet. Mir war wichtig, dass der Stuhl eine menschbezogene Form hat, bei der das Vollholz sichtbar und erlebbar wird, aber trotzdem leicht wirkt. Schnell war klar, dass daraus eine ganze Stuhlfamilie wird, inklusive einer Armlehnen-Version mit eigenem Charakter, das gab es bei Zeitraum bisher nicht. Wir haben uns viel mit den Details und den richtigen Proportionen beschäftigt, Modelle und Prototypen in der Werkstatt gebaut und eng mit den Formholztechnikern zusammengearbeitet. Und schliesslich kam der Test, wie sich der Stuhl anfühlt, wenn wir in meinem Atelier einen Tag darauf sitzen. Bestanden, würde ich sagen!
Was schätzt du an der Zusammenarbeit mit Zeitraum besonders?
MH: Zeitraum, 1990 gegründet, war der erste deutsche Möbelhersteller, der auf die Verbindung von Ökologie und Design setzte. Seit fast 15 Jahren arbeite ich mit dem Team zusammen, uns verbinden die gemeinsamen Werte. Ich möchte Möbel entwerfen, die haltbar sind, lange geliebt und benutzt werden. Das umfassende Know-how von Zeitraum, unsere Haltung zum Umgang mit Nachhaltigkeit, all das fliesst in jede Entwicklung ein. Jede erneute Zusammenarbeit ist eine spannende Herausforderung, diese Themen weiterzuentwickeln.
«Ich möchte Möbel entwerfen, die haltbar sind, lange geliebt und benutzt werden.»

Massarbeit in der Entwicklung: Der Stuhl verbindet gekonnt die Flexibilität der Formholzschale mit der Stabilität des Massivholzgestells.
Aktuell bist du auch Gastprofessor an der UDK in Berlin. Inwiefern verändert diese Tätigkeit deine Sichtweise auf Design?
MH: Ich unterrichte seit Langem Produktdesign und inzwischen auch im Bereich Sustainable Design. Das ist für mich persönlich eine grosse Bereicherung, weil es mir neben der Praxis viel Raum gibt, mich mit Theorie und Experiment auseinanderzusetzen und junge Menschen für die Themen zu begeistern, für die ich selbst brenne. Dabei gebe ich nicht nur mein Wissen weiter, ich versuche junge Gestalter:innen zu befähigen, ihre ganz persönliche Haltung zu finden und mutig zu vertreten.
Hast du ein noch nicht erfülltes Traumprojekt?
MH: Ich schliesse gerade eines ab! Leider kann ich noch keine Details verraten, aber ich hatte in letzter Zeit sehr viele Türklinken in der Hand … (lacht).